In der Corona-Pandamie zieht sich eine fünfköpfige Familie aus Unterfranken immer mehr zurück. Eine Tochter magert bis auf die Knochen ab – mit fatalen Folgen. Die Eltern stehen nun vor Gericht.
Das Elend der angeklagten Eltern ist mit Händen greifbar. Der Mutter laufen schon vor Prozessbeginn die Tränen übers Gesicht, der Vater senkt immer wieder den Blick. Beide sprechen von Schuld. Schuld am Tod ihrer jugendlichen Tochter, die vor rund zwei Jahren im elterlichen Bett stirbt. Abgemagert, nur noch Haut und Knochen, zusätzlich geschwächt durch eine Corona-Infektion und einen Magen-Darm-Virus. Doch niemand verständigt bis zu Paulines Tod einen Arzt.
Vor dem Landgericht Schweinfurt sitzen zwei Menschen, deren fünfköpfige Familie in der Corona-Pandemie nach eigenen Worten zurückgezogen lebte. Außer dem Sohn sei keiner gegen das neuartige Virus geimpft gewesen, ein kleiner Schrank mit Globuli hängt im Schlafzimmer.
Die zierliche, sensible Pauline, ist psychisch labil und in Therapie. Die Jugendliche hatte nach Worten des Verteidigers der Mutter eine Angststörung, wird in der Schule gemobbt. Das Mädchen häkelt leidenschaftlich gern und präsentiert seine Arbeiten in sozialen Netzwerken. „Sie liebte Mode“, erzählt der Anwalt des Vaters im Auftrag seines Mandanten. Aber die 16-Jährige zieht sich auch zunehmend zurück, hat wenig Freunde, ist introvertiert, hat Angst vor Corona, geht nicht mehr zur Schule, wird immer dünner.
Psychische Erkrankungen in Pandemie vor allem bei Mädchen gestiegen
Wissenschaftlern zufolge ist die Zahl der Jugendlichen mit Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie bundesweit gestiegen – besonders in der Corona-Pandemie. Vor allem bei 12- bis 17-jährigen Mädchen und Frauen gab es einer Studie der KKH Kaufmännische Krankenkasse zufolge zwischen 2020 und 2021 einen massiven Anstieg um mehr als 30 Prozent. Einer der Gründe – neben der Pandemie: Sogenannte Fake-Ideale und die Flut von Bildern vermeintlich makelloser Menschen auf Social-Media-Plattformen.
Mädchen nur noch ein Skelett
Als Polizei und Notarzt in den frühen Morgenstunden des 19. Dezember 2022 zum Haus der Angeklagten in Unterfranken gerufen werden, finden sie das leblose Mädchen. „Ein Skelett mit Haut und Knochen“, erzählt ein Kommissar vor Gericht. „Verstörend. (…) Der Körper war komplett ausgezehrt.“ Der Polizist vermutet, dass die Eltern mit der Situation überfordert waren, sich dem Willen ihres Kindes wohl beugten, nicht in ein Krankenhaus zu wollen. Seinem Eindruck nach waren die Geschwister der 16-Jährigen wohlgenährt, das Haus aufgeräumt und sauber.
Oberstaatsanwalt Markus Küstner spricht von einer essgestörten Jugendlichen. Der damals eingesetzte Notarzt sagt: „Sie war stark untergewichtig. (…) Sie war unterernährt.“ Von um die 19 Kilogramm bei der rechtsmedizinischen Untersuchung der Leiche ist die Rede.
Paulines 51 Jahre alter Vater und seine 48 Jahre alte Frau sollen trotz der gefährlichen Situation keinen Arzt für ihre Tochter gerufen haben. Beide sind wegen versuchten Totschlags, Aussetzung und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Für den Prozess sind insgesamt drei Verhandlungstage angesetzt.
Der Oberstaatsanwalt spricht von versuchtem Totschlag, obwohl das Mädchen tot ist: Und zwar deshalb, weil nicht klar sei, dass das Kind noch gerettet hätte werden können. Dennoch sei es sei ein pflichtwidriges Unterlassen der Eltern gewesen, keine Hilfe zu holen, erläutert Küstner.
Salzstangen zum Essen
Die Mutter weist am ersten Verhandlungstag zurück, den Tod der 16-Jährigen billigend in Kauf genommen zu haben. „Sie hat selbstständig getrunken und auch immer wieder Salzstängchen gegessen“, sagt der Verteidiger der Frau. Seine Mandantin habe die Gefährlichkeit der Situation allerdings nicht wahrgenommen. „Natürlich bewerte ich mein Verhalten im Nachhinein völlig anders. Ich bin sehr traurig und fühle mich Pauline gegenüber sehr schuldig“, verliest der Anwalt eine Erklärung der gelernten Erzieherin.
„Wir haben uns bis zuletzt nicht vorstellen können, dass Pauline stirbt“, erklärt auch der Anwalt des Vaters im Auftrag seines Mandanten, der als technischer Angestellter in einer Behörde arbeitet. „Ich hatte bis zuletzt gedacht, dass alles wieder gut wird. (…) Ich hätte dafür sorgen müssen, dass Pauline auch gegen ihren Willen in einem Krankenhaus behandelt wird.“