Der Vizekanzler unterzieht die China-Strategie einem Realitätscheck. Wie Robert Habeck in China sehr lange, letztlich erfolgreiche Tage hatte.
Es ist bald Mitternacht, als Robert Habeck auf der Terrasse des Kempinski-Hotels in Shanghai sein Jackett auszieht. Nun aber wirklich zum letzten Mal an diesem Tag. Es ist noch immer schwül, ein zarter Niesel beginnt die Luft zu kühlen. „Ein Anfang ist gemacht“, hat er gerade in die „Tagesthemen-Kamera“ gesagt. „Immerhin wird jetzt nicht mehr nur übereinander, sondern miteinander geredet.“
Kurz zuvor hat der chinesische Handelsminister bekanntgegeben, dass China nun doch Verhandlungen mit der EU-Kommission aufnehmen will, um Ausgleichszölle zu verhindern. Für den Moment wäre damit ein Handelskrieg ein bisschen unwahrscheinlicher geworden. Für Habeck heißt das nun zweierlei: Erstens, es war ein überraschend erfolgreicher Tag. Und zweitens, dass er nun wirklich noch ein Bier braucht. Zumindest das Erste war heute Morgen noch nicht vorherzusagen.
Robert Habeck in Fernost: China kann auch Tacheles
Spaziergänge meiden, Sport nur in geschlossenen Räumen, meldete die Wetter-App für Peking an diesem Junisamstag. Draußen, auf den breiten Straßen der chinesischen Hauptstadt herrschte der übliche Smog. Drinnen jedoch, in der riesigen Halle der staatlichen Reformkommission, wirkte schon da manches überraschend klar. Dieses oft so rätselhafte China kann also auch Tacheles?
Überkapazitäten, Dumpingpreise? „Das ist absurd“, sagte der mächtige Vorsitzende der Reformkommission. „Unser direktes Verhältnis ist jetzt schon negativ beeinflusst“, sagte der deutsche Vizekanzler. Der Chinese sprach über die drohenden EU-Strafzölle auf Elektroautos. Der Deutsche von Chinas Unterstützung für Russland im Krieg gegen die Ukraine. Natürlich hob keiner der Männer dabei seine Stimme, doch mit dem Eingangsstatement war allen klar, hier werden heute keine Pandas gestreichelt.
Tag zwei seiner fünftägigen Fernost-Reise, offiziell ging es an diesem Vormittag um den „1. Hochrangigen Dialog im Rahmen des deutsch-chinesischen Kooperationsmechanismus zum Klimawandel und zur grünen Transformation“ – ja, die vielen Wörter passen alle auf eine große, mit blauem Stoff bespannte Stellwand. In Deutsch und auf Chinesisch. Daneben die Fahnen beider Länder, davor an vier langen, mit Hussen verhängten Tischreihen sitzen sich beide Delegationen gegenüber.
Die K-Frage reist bei Robert Habeck immer mit
Offiziell geht es ums Klima. Weil dies aber nun mal die erste Reise des deutschen Vizekanzlers nach China ist, nach beinahe ewigen 2,5 Jahren im Amt, geht es immer um Fragen von noch größerer Grundsätzlichkeit. Wie verstehen sich die beiden? Nicht nur Robert Habeck und Zheng Shanjie – die schon beim Handshake vor Seidenbild mit Blumen kaum gelächelt haben. Vielmehr: Wie klappt das so zwischen Habeck und China insgesamt? Und andersherum? Nicht zuletzt: Wie weit trägt die deutsche China-Strategie eigentlich in der Praxis? Und, ja, auch die ewige K-Frage reist immer mit.
Doch zurück zu dem Thema, das Habeck auf der ganzen Reise verfolgt: die Strafzölle. Die europäische Kommission hat nach Monaten ergebnisloser Debatte angekündigt, ab Anfang Juli auf chinesische Elektroautos bis zu 38,1 Prozent Abgaben zu verlangen. Es ist die erste harte Reaktion Europas, um die heimische Industrie vor einer wahren Flut hochsubventionierter China-Waren zu beschützen. Es geht, wie immer, wenn es Ärger mit den Chinesen gibt, um das Level Playing Field, einen Wettbewerb zu gleichen Regeln und Bedingungen.
Habeck ist kein Freund dieser Zölle, aber keineswegs so strikt dagegen wie der Kanzler. Als Vize trägt er das geplante Vorgehen der EU gegenüber Deutschlands größtem Handelspartner mit. Seinen Zwiespalt hatte er zum Start der Tour schon damit erklärt, dass der in der China-Strategie beschriebene Dreiklang vom Partner, Wettbewerber und Systemrivalen in letzter Zeit immer stärker auf dem hinteren Teil betont werden muss. China entwickelt sich auf vielen Feldern zum Rivalen.
Wie lässt sich ein Handelskrieg mit China verhindern?
Europa steht vor der schwierigen Frage, wie sich die chinesische Dumping-Flut eindämmen lässt – ohne einen Handelskrieg anzuzetteln, der letztlich allen schade, den Europäern womöglich sogar stärker. Ihr prüft Ausgleichszölle auf unsere E-Autos? Dann prüfen wir Zölle auf Schweinefleisch. Die chinesische Handelskammer hat vorsorglich höhere Abgaben auf großvolumige Motoren gefordert, Motoren, wie sie vorrangig in Autos deutscher Hersteller verbaut werden. Zölle, Gegenzölle, Gegengegenzölle – wo soll das enden?
Einen Fundi-Grünen, der Habeck nicht ist, könnte das womöglich freuen, den Wirtschaftsminister Habeck muss es entsetzen. Protektionismus ist Gift für Exportnationen.
Robert Habeck am Bund in Shanghai
© Sebastian Christoph Gollnow
Sicher, es gebe da einen gewissen Vorsprung chinesischer Hersteller, sagte Kommissionschef Zheng, aber: „Dieser Vorsprung ist nicht Ergebnis von Subventionen.“ Außerdem exportiere man lediglich 12,5 Prozent aller in China produzierten E-Autos. Weniger als die Deutschen. Aber wie viele werden es noch? Und zu welchen Preisen? Darüber sind nicht nur deutsche Hersteller sind in Sorge.
Deren CEOs mussten als Erste erfahren, warum regelmäßige Besuche in China so enorm wichtig sind. Vor ein paar Jahren noch hielten die Deutschen einen chinesischen Elektro-Boom für ausgeschlossen. Zu rückständig deren Industrie. Sie ignorierten auch die alarmierenden Nachrichten, die ihre Vertreter während der Pandemie in die Heimat kabelten. Zu langsam deren Entwicklung. Nach Corona, als auch die CEOs wieder reisen konnten, fiel der Realitäts-Schock um so härter aus, heißt es nun.
Staatlich subventionierte Überkapazitäten
Und dieser Schock hält an: Chinas größter E-Auto-Hersteller BYD will in den kommenden Jahren seine Produktionskapazitäten verdoppeln. Dabei beträgt die Auslastung derzeit nicht einmal 50 Prozent. Es sind nicht allein diese Überkapazitäten, die Habeck kritisiert – die haben man als Exportwirtschaft schließlich selbst. Es sind auch nicht allein staatliche Subventionen – die gebe es auch in Europa. Das Fatale sei erst die Kombination aus beidem: staatlich subventionierte Überkapazitäten, die genutzt würden, um andere Märkte zu erobern.
So erklärt es Habeck den ganzen Tag über den Chinesen, dem Industrieminister, dem Handelsminister. Es seien „sehr offene, intensive Gespräche“ gewesen, heißt es danach, was übersetzt nichts Anderes bedeutet, als dass man sich gegenseitig ordentlich die Meinung gesagt hat. Habeck hat nichts dagegen auch mal „unverblümt Argumente auszutauschen“, wenn’s hilft. Nur hilft es?
Immerhin, so viel ist klar, es soll noch am Abend eine Videokonferenz des Industrieministers mit dem zuständigen EU-Kommissar geben. Am Nachmittag, auf dem Weiterflug von Peking in Richtung Shanghai, wirkte der Minister nur mäßig optimistisch. Reden, vielleicht, aber um wirklich zu verhandeln – oder doch nur Zeit zu schinden? Und was dann?
Habeck hatte den Eindruck, man habe zumindest zugehört, hin und wieder den Sprechzettel mit den vorbereiteten Antworten beiseitegelegt, sogar erklärt, man müsse dieses oder jenes vielleicht neu bewerten. Es sind genau die Situationen, die der Politiker Habeck immer am liebsten erzeugen will. Er spricht dann gern von „Denkräumen“ oder „Diskursräumen“, einmal fällt sogar das Wort „Ahnungsraum“ – lauter imaginäre Zimmer eines Gedankengebäudes durch das Habeck seine Besucher führt. Wie ein Hausmeister mit dem dicken Schlüsselbund, der mal links und mal rechts eine Tür aufschließt und sein Gegenüber einlädt, sich eine andere, bessere Realität zumindest vorzustellen.
Update für die China-Strategie?
Am Vorabend hatte es wieder so einen Moment gegeben, beim abendlichen Pressestatement. Habeck stand in blütenweißem Hemd mitten in einem Hutong, wie Pekings verbliebene Altstadtviertel genannt werden. Es war dunkel, auf dem kleinen Platz trieben noch ein paar Rentner Sport, im Hintergrund erhob sich der Glockenturm von Kublai Khan – und Habeck holte den Schlüsselbund raus: Nach dem Treffen mit den EU-Botschaftern, berichtet Habeck, sei ihm klar geworden, dass es ein Update der China-Strategie bräuchte. Jeder wolle irgendwas, aber was wolle eigentlich Europa?
Was hängen blieb, waren die Worte „Update“ und „China-Strategie“, was sich zur Aussage verdichten ließ: Habeck stellt die deutsche China-Strategie – die wie alles in der Ampel nach langem Prozess und unter großen Schmerzen geboren wurde – wieder infrage. Aufregung, groß.
Manchmal, wenn es in den Denkräumen, die Habeck aufschließt, ein wenig zu laut hallt, müssen seine Leute durch die Flure laufen, um die Türen rasch wieder zu verschließen. Man hat schließlich noch ausreichend offene Punkte mit der aktuellen China-Strategie. Das Thema „De-Risking“ wäre da zu nennen, also die Reduktion drohender Gefahren, die durch zu große einseitige Abhängigkeiten vom China entstanden sind.
Angela Merkel flog als Kanzlerin einmal sogar mit zwei Maschinen nach China. In einer saßen die offizielle Delegation, in der anderen flogen die Wirtschaftsbosse. Heute undenkbar, jedenfalls nicht mehr nach China. Asien ist groß. Was ist mit Vietnam oder Indonesien? Was mit Südkorea, wo Habeck auf diesem Trip eine auffallend lange Werbepause eingelegt hat? Und was ist mit dem anderen asiatischen Riesen, Indien, wo demnächst der Asien-Pazifik-Gipfel der deutschen Wirtschaft abgehalten wird?
Kein Wachstum, kein Interesse
Bisher scheint die Antwort der exportorientierten Unternehmen auf all diese Vorschläge zu lauten: Nett, aber eben nicht China. Kein solches Wachstum, nicht annähernd so groß, kein vergleichbares Potenzial – kein Interesse.
Dieser trotz allem heitere Optimismus ließ sich auch beim 30. Jubiläum der Außenhandelskammer Shanghai bewundern, das man am Abend im Kempinski feierlich beging. Im Beisein des Ministers. Die Grußworte der Vizechefin endeten jedenfalls mit einem Toast auf die nächsten 30 Jahre – voller Wachstum, Wohlstand und Erfolg.
De-Risking? Ein Teilnehmer der Wirtschaftsdelegation formulierte es so: „Ich bin hier doch nicht im Kindergarten.“ Als Unternehmer würde man jeden Tag Risiken bewerten, jeden Tag mit dem Risiko leben – da wolle man sich von keinem Ministerialen belehren lassen.
Robert Habeck sieht das ein wenig anders. Er fürchtet, und dass vermutlich nicht ganz zu Unrecht, dass die Wirtschaft, wenn es schief läuft, bei ihm auf der Matte steht. Dann soll er, der Staat sie retten. Aber das ist ein Problem, um das sich der Minister nicht mehr an diesem Abend kümmern will. Wo war gleich das Bier?