Eine junge Mutter träumte von einer Großfamilie. Mit zwei Kindern stieß sie an ihre Grenzen. Erst nach Jahren des Kampfes verstand sie, warum – und lernte, ihre Träume loszulassen.
„Ich will sechs Kinder kriegen.“ Das war die Wunschvorstellung meines kinderlosen Ichs. Sechs Kinder, eine Großfamilie, die sich liebt, füreinander da ist, in guten und in schlechten Zeiten.
Dann bekam ich ein Kind, und mir wurde das erste Mal bewusst, dass mein Traum von sechs Kindern vielleicht zu hoch gegriffen war. Dass ich das vielleicht nicht schaffen werde. Dass ich den Traum vielleicht verabschieden muss.
Der Traum von der Großfamilie
Denn ein Kind zu haben brachte mich schon sehr häufig an meine Grenzen. Als wir unser zweites Kind bekamen, wurde mir schmerzlich bewusst, dass mein Traum von sechs Kindern sehr wahrscheinlich für immer das bleiben würde – ein Traum.
Denn obwohl ich überlastet und erschöpft war, der Traum blieb bestehen. Ist immer noch da, obwohl unser zweites Kind schon fast drei Jahre alt ist.
Denn mit jedem Kind stiegen die Anforderungen an mich, meinen Alltag, meine Fähigkeiten. Mein Körper machte irgendwann dicht. Ich merkte, ich muss mich entscheiden. About Marlies Johanna
Arbeit oder Kinder, beides ging nicht. Nur konnte ich keine Entscheidung treffen, denn meine Arbeit finanziert unsere Familie, und ohne meinen Mann schaffe ich die Kinder nicht. Das merkte ich schnell, als mein Mann nach seiner Elternzeit für ein paar Monate eine Teilzeitstelle antrat.
Ich weinte viel. Vor Müdigkeit und Verzweiflung, Wut und Erschöpfung. Ich hatte Panikattacken, jeden Tag. Mein Körper, mein Kopf, alles fühlte sich ausgebeutet an. Mein Mann kündigte seine Stelle, weil ich ihn darum bat, mich nicht mit den Kindern alleine zu lassen. Ich schaffte es einfach nicht. Lieber die finanzielle Last alleine tragen, als meinen Kindern nicht gerecht werden zu können.
Immer wieder wurde ich krank. Mein Körper wurde immer schwächer. Ich bekam Antidepressiva. Die Panik wurde weniger, die Freude auch. Ich erinnere mich an zahllose Nachmittage im Bett, schlafend. Die Kinder morgens fertig machen und ein paar To-dos für meinen Job zogen alle Energie. Der Druck, meiner Familie und mir selbst gerecht zu werden, wurde immer größer.
Je mehr Druck ich spürte, desto handlungsunfähiger wurde ich. Gleichzeitig fühlte sich mein Körper an, als würde er unter Strom stehen. Alles war zu viel. Mein Kopf so voller Gedanken, dass ich inmitten des Satzes vergaß, was ich überhaupt sagen wollte. An immer mehr Tagen kostete mich das Sprechen so viel Überwindung und Energie, dass ich, von Panik überschwemmt, zusammensackte.
STERN PAID Kolumne Sex über 40 ADHS 18.40Der lange Weg zur Diagnose
Im Januar 2024 stellte mir eine Neurologin die Diagnose ADHS, ein Puzzlestück, das viele Fragen in meinem Lebenslauf beantwortete. Es dauerte knapp sechs Monate, bis ich mir wirklich eingestand, ADHS zu haben. Was das für mich bedeutete, war mir immer noch nicht klar.
Ich setzte meine Antidepressiva ab, ich wollte endlich wieder etwas spüren. Auch die Panik.
Meine exekutiven Dysfunktionen wurden immer schlimmer. An manchen Tagen konnte ich nicht mal mehr duschen, weil mein Gehirn sich nicht entscheiden konnte, welcher Teilschritt dafür zuerst ausgeführt werden muss. Weil ich aufgrund der vielen Jahre Kinderbetreuung zwar jede Menge Routinen für die Kinder, aber kaum welche für mich selbst hatte, scheiterte es oft daran, herauszufinden, wann überhaupt der richtige Zeitpunkt zum Duschen, Essen, Anziehen ist.
Jede Nacht wachte ich mit Panikattacken auf. An fünf von sieben Tagen die Woche tat ich nichts, außer Kinder anziehen, ein wenig arbeiten, schlafen, Kinder ins Bett bringen, schlafen.
Mein Tag endete um 18.30 Uhr, gemeinsam mit den Kindern – länger hielt ich nicht durch. Ich bewunderte meinen Mann, wie er das alles schaffte. Abends sogar noch Sport machte oder arbeitete, las oder sich um die Wäsche kümmerte.
Wenn ich abends Sport machte oder irgendetwas anderes, außer im Bett liegen und eine Serie angucken, die ich schon tausend Mal gesehen hatte, endete es in einem Nervenzusammenbruch, heulen, Panik, totale Erschöpfung.
Ich wusste nicht, was los ist. Ich fragte mich, ob ich Depressionen habe. Immerhin war ich so erschöpft. Nur am ADHS konnte es nicht liegen, mein Mann hat auch ADHS und kommt viel besser zurecht. Aber Depressionen fühlten sich falsch an, es passte nicht zu dem, was ich fühlte. Ich war müde, ja, und ich war auch manchmal traurig, wenn ich überfordert war.
Aber im Großen und Ganzen war ich glücklich. Ich liebte meine Kinder, ich liebte meinen Mann, ich liebte meinen Job. Ich fand mein Leben toll, ich verstand nur nicht, warum alles so anstrengend sein musste.
Im Oktober 2023 bekam ich endlich Antworten. Anfang des Monats schob ich alle Vorurteile über ADHS beiseite und machte einen Termin bei einem Psychiater. Er verschrieb mir ADHS-Medikamente, und endlich ging es mir besser. Deutlich besser.
Ich merkte eigentlich gar nicht, dass die Medikamente anfingen zu wirken oder wann sie aufhörten. Ich merkte nur, dass alles leichter war. Duschen kostete weniger Überwindung, arbeiten kostete weniger Überwindung.
Mein Kopf wurde ruhiger, ich konnte mich wieder mehr konzentrieren. Ich war weniger erschöpft und schaffte mehr Dinge an einem Tag. Mit mehr meine ich nicht viel, sondern mehr. Ich konnte fünf bis sechs Stunden arbeiten, anstatt null bis maximal zwei Stunden. Danach konnte ich Essen kochen oder Sport machen und hatte im Anschluss noch genug Energie, um die Kinder fertig zu machen und ins Bett zu bringen.
Ich konnte wieder lebendig sein. So wie früher. Bevor ich Kinder hatte und das Leben so kompliziert wurde. Meine Panikattacken verschwanden. Und wenn meine Kinder um 19.00 Uhr schliefen, fühlte ich mich nicht mehr erschlagen. STERN PAID 02_25 Caro Daur 12:14
Im November bekam ich schließlich meine Autismus-Diagnose. Die Diagnostik zog sich über fünf Monate. Ich war erleichtert, denn unter meinem Autismus litt ich mein Leben lang viel stärker als unter meinem ADHS.
Ja, ich frage mich manchmal, ob mein Abiturschnitt besser gewesen wäre, hätte ich während der Schulzeit schon ADHS-Medikamente nehmen können, oder ob ich dann vielleicht sogar meinen Studienabschluss gemacht hätte.
Aber es war meine Autismus-Spektrum-Störung, die mir so viele Dinge in meinem Leben erschwert hatte. Die soziale Interaktion, der selektive Mutismus und vor allem die Reizfilterschwäche. Ich verstand, dass das, was ich die letzten Jahre immer wieder erlebt hatte und Außenstehende wahrscheinlich als Depression wahrgenommen hätten, ein Shutdown gewesen war. Die Erschöpfung, die Dissoziation, eine Antwort meines Nervensystems auf eine Überlastung.
Leben mit Einschränkungen
Ich habe noch keinen Grad der Behinderung beantragt, aber ich weiß, dass ich einen kriegen werde. Ich kann nicht mehr einkaufen gehen, das macht immer mein Mann. Ich kann nicht mehr Bahn fahren, nicht mal mehr mit Noise-Cancelling. Ich kann nicht arbeiten und die Kinder in die Kita bringen und abholen. Ich kann nicht ins Kino oder essen gehen oder in ein Fitnessstudio und dann den nächsten Tag ganz normal arbeiten, als wäre nichts gewesen.
Früher, als ich noch zur Schule ging, war es nicht so schlimm. Ich hatte manchmal Meltdowns im Unterricht, und im vollen Zug bekam ich regelmäßig Panikattacken, aber zu Hause konnte ich mich erholen.
Seit meinem Schulabschluss hat sich das geändert. Mein FSJ im Pflegeheim brachte mich täglich an meine Grenzen. Einmal musste ich nach Hause geschickt werden, weil ich einen Meltdown bekam und nicht mehr ansprechbar war. Spätestens alle drei Wochen wurde ich krank. Richtig krank, mit hohem Fieber, starken Gliederschmerzen und hohen Entzündungswerten.
Zu Hause war ich aber versorgt. Hatte keine Verpflichtungen. Meine Eltern führten den Haushalt, kochten, kauften ein. Soziale Kontakte hatte ich kaum noch, dazu war ich zu erschöpft. Nach meinem Auszug wurde alles schlimmer.
Ich schaffte entweder oder: entweder einkaufen gehen und Essen kochen oder Vorlesung besuchen. Ich schaffte eine Vorlesung pro Woche, dann musste ich mich wieder zurückziehen. Mein fotografisches Gedächtnis half mir, den Anschluss trotzdem nicht vollständig zu verlieren.
Im zweiten Semester stand ich vor der Uni. Meine Prüfung begann in 15 Minuten, und ich konnte nicht aufhören zu weinen. Eine Studentin kam zu mir, beruhigte mich und brachte mich zu einem Arzt. Der Arzt fragte mich, was los sei, und ich erzählte ihm, ich hätte Kopfschmerzen. Ich wusste nicht, was los war, und mein Kopf tat tatsächlich weh. Er vermutete Migräne und schrieb mich krank. ADHS Interview 15:48
Erst als ich mein Studium nach sechs Semestern abbrach und ein Fernstudium begann, bei dem ich alles von zu Hause aus machen konnte, wurde es besser. Ich hatte Energie für soziale Kontakte, lernte meinen Mann kennen und ging regelmäßig zum Sport. Mir ging es so gut wie seit der Grundschule nicht mehr. Dann wurde ich schwanger. Der Rest ist Geschichte.
Seit mein behandelnder Psychiater das erste Mal ansprach, dass ich einen Grad der Behinderung beantragen soll, arbeitet es in mir. Ich dachte immer, es wäre meine „freie Wahl“, nicht einkaufen zu gehen, nicht mit der Bahn zu fahren, die Kinder nicht in die Kita zu bringen. Irgendwie war mir klar, dass es damit zusammenhängt, dass ich das alles nicht schaffe. Aber ich dachte, das liegt daran, dass ich keine Routinen habe oder faul bin oder zu bequem.
Aber es ist keine freie Wahl. Ich muss mir eingestehen, behindert zu sein. Und ich muss mir eingestehen, dass diese Behinderung nicht nur diese Bereiche meines Lebens beeinflusst, sondern alle.
Auch den Wunsch nach einem weiteren Kind. Ein Wunsch, der immer größer wird. Immer mehr weh tut. Mit jedem Tag, an dem ich nicht schwanger bin. Obwohl wir es nicht mal versuchen. Weil es aktuell nicht geht. Noch nicht, aber vielleicht auch nie wieder.
Es ist dieser zerbrechende Traum, der mir Tränen in die Augen treibt, wenn mir andere von ihren Schwangerschaften erzählen. Dabei habe ich schon zwei wundervolle Kinder. Und wir versuchen es nicht mal.