Im Skandal um Stefan Gelbhaar steht der Verdacht einer Falschbeschuldigung im Raum – und einer Intrige. Über einen Fall, der auf allen Seiten nur eins anrichtet: Schaden.
Die Aufklärung hat gerade erst begonnen, noch gibt es keine Gewissheiten im Fall Gelbhaar. Außer eine: Dieser Skandal kennt nur Verlierer – und vor allem Verliererinnen.
Verlierer ist zunächst Stefan Gelbhaar selbst, dessen politische Karriere ruiniert scheint. Im Dezember waren schwere Belästigungsvorwürfe gegen den Grünen Bundestagsabgeordneten laut geworden. Nun kam heraus: Zumindest Teile davon waren offenbar frei erfunden. Recherchen des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB), der erstmals über die Anschuldigungen berichtet hatte, und des Berliner „Tagesspiegel“ legen den Verdacht nahe, dass die Vorwürfe unter falscher Identität erhoben wurden – womöglich durch eine Grünen-Bezirkspolitikerin.
Zahl der sexuellen Übergriffe steigt
Gelbhaar hat Anzeige wegen Verleumdung gestellt. Aber selbst wenn die Justiz ihn vollständig entlasten sollte, ist fraglich, ob sich sein beschädigter Ruf wieder ganz herstellen lässt. Allzu häufig verstummt das Geraune in solchen Fällen leider nie: „Wo Rauch ist, ist auch Feuer.“ Nicht umsonst spricht man von „Rufmord“.
Verliererinnen sind die Opfer sexueller Übergriffe. Die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung steigt in Deutschland seit Jahren kontinuierlich an. 2023 erreichte sie erneut einen Höchststand von rund 126.000 Fällen, darunter 12.297 Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen.
FAQ Stefan Gelbhaar Intrige 12.00
Die Dunkelziffer ist weit höher. 89 Prozent der befragten Frauen gaben bei einer Studie des Instituts für Angewandte Sexualwissenschaften der Hochschule Merseburg im Jahr 2020 an, schon einmal durch Worte oder unerwünschte Berührungen sexuell belästigt worden zu sein. Nur die Wenigsten erstatten Anzeige.
Der Fall Gelbhaar könnte dazu führen, dass noch mehr Opfer befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird. Und dass noch weniger Anzeige erstatten.
Der „Missbrauch mit dem Missbrauch“
Verliererin ist die #MeToo-Bewegung. Nach dem Weinstein-Skandal kam sie im Jahr 2017 weltweit ins Rollen und schaffte endlich ein Bewusstsein für ein alltägliches Problem: sexuelle Belästigung. Frauen brachen und brechen ihr Schweigen, fanden und finden endlich Gehör.
Die Affäre um Gelbhaar aber spielt den Tätern (die meisten sind Männer) in die Hände. Der Verdacht einer Intrige steht im Raum – und wird in künftigen #MeToo-Fällen all jenen nutzen, die nach jedem Vorwurf nichts Besseres zu tun haben, als die Opfer erst einmal der Lüge zu bezichtigen. Nach acht Jahren #MeToo ist das ein herber Rückschlag.
Wenn Metoo zur Waffe wird – Kommentar. 14.30
Die 2010 verstorbene Publizistin Katharina Rutschky prägte das Schlagwort vom „Missbrauch mit dem Missbrauch“. Sie nahm sich als Frau heraus, die Frauenbewegung zu kritisieren, bürstete Dinge gerne gegen den Strich. Für ihre Thesen wurde sie auf Veranstaltungen von Frauen angegriffen, auch körperlich. Unter anderem behauptete sie, sexueller Missbrauch würde übertrieben. Heute steht fest, dass sie irrte – das zeigt nicht nur die Dunkelfeldforschung, sondern auch das Internet (Stichwort Kinderpornografie). Sexueller Missbrauch ist ein alltägliches Problem.
Aber Rutschky hatte den Finger in eine Wunde gelegt. Auch Frauen werden zu Täterinnen, die Missbrauch erfinden, um Männer zu erledigen. In Sorgerechtsstreitigkeiten zum Beispiel. Familiengerichte in Deutschland akzeptieren inzwischen sogar Tests von Lügendetektoren, um zu verhindern, dass unschuldige Väter verfolgt und ihre Kinder nicht mehr sehen dürfen. Zweifelsfrei setzen manche Frauen falsche Beschuldigungen in die Welt – aber es geschieht selten. Jedenfalls deutlich seltener als sexueller Missbrauch. Der Fall Gelbhaar ist auch deshalb fatal, weil er ein gegenteiliges Bild vermittelt.
Im Mittelalter der Pranger, heute das Internet
Verlierer ist der öffentlich-rechtliche Sender RBB, der zugegeben hat, in dem Fall nicht gründlich genug recherchiert zu haben. Verlierer sind auch die redaktionellen Medien insgesamt, die in Zeiten der sozialen Medien ohnehin um Glaubwürdigkeit kämpfen müssen, um Aufmerksamkeit sowie um Leser und Leserinnen. Nun werden sie in Sippenhaft genommen werden.
Der Medienrechtler Christian Schertz und der Journalist Christian Schuler schreiben in ihrem Buch „Rufmord und Medienopfer“: „Während man im Mittelalter nur auf dem Marktplatz an den Pranger gestellt wurde, sind heute Informationen innerhalb weniger Minuten weltweit abrufbar. Die Zerstörung eines Lebens ist also ohne weiteres in kürzester Zeit möglich.“
Der Gelbhaar-Skandal zeigt: Vorsicht bei der Verdachtsberichterstattung
Nach allen vorläufigen Erkenntnissen zum Fall Gelbhaar könnte sich eine Bezirkspolitikerin diesen modernen Pranger zunutze gemacht haben. Der RBB fiel nach eigenen Angaben auf sie herein, jedenfalls veröffentlichte er die Vorwürfe vorschnell im Netz. Der Sender – und die Medien insgesamt – sollten aus diesem Fall lernen und noch mehr Vorsicht walten lassen bei der Verdachtsberichterstattung.
#MeToo hatte nur deshalb Erfolg, weil es mehrere Frauen waren, die Weinstein beschuldigten, und zwar unabhängig voneinander. Und weil die Medien eigene Recherchen anstellten, bevor sie mit den Vorwürfen an die Öffentlichkeit gingen.
Die Unschuldsvermutung gilt auch für die Bezirkspolitikerin
Verlierer sind die Beschwerdestellen für Missbrauchsopfer. Die Verdachtsfälle gegen Gelbhaar lagen bei der Ombudsstelle der Grünen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dort sind sicher gutwillig, aber sie sind keine Ermittlungsbehörde. Sie sind vermutlich nicht dafür ausgebildet, Zeugen und Zeuginnen zu befragen, sie haben auch keine Befugnisse. Solche Fälle gehören in die Hände von Polizei und Staatsanwaltschaft, die nun in Ruhe ihre Arbeit tun werden.
Verlierer sind schließlich die Grünen, die sich gerne als Moralapostel aufspielen, aber offenbar nicht die Unschuldsvermutung kennen.
Verliererin ist nicht zuletzt auch die Grünen-Bezirkspolitikerin, die nun unter Verdacht steht, die mögliche Intrige eingefädelt zu haben. Sie hat ihren Job aufgegeben. Ihr Name und Foto werden durchs Netz gejagt. Dabei gilt auch für sie die Unschuldsvermutung.