In der Mitte des Lebens sehnen sich viele nach einem Berufswechsel – nur wie? Eine Mut machende Anleitung für den Berufswechsel.

Früher lag Nina Kapp nachts häufig wach und wälzte Gedanken über ihre Arbeit. „Ich dachte, das wäre normal“, sagt die Anfang 40-Jährige. In der Finanzbranche arbeiten viele Kollegen unter Stress. Wenn es irgendwo nicht mehr gut lief, rückte Kapp an: Sie sanierte deutsche Filialen der Citibank in Bayern, Baden-Württemberg und im Saarland. Meist blieb sie für ein bis anderthalb Jahre und brachte die Filialen in die Spur, bis die Zahlen wieder stimmten. Kapp erzählt: „Ich habe gemerkt, dass ich Einfluss nehmen kann auf Menschen, sodass sie motivierter und engagierter arbeiten.“ Sie konnte das gut, es hätte immer so weitergehen können, bis zur Rente. „Das wäre auch okay gewesen“, sagt Kapp. Kurze Pause. Dann ergänzt sie: „Aber halt nur okay.“

Nina Kapp arbeitete erfolgreich als Bankerin – bis sie merkte, wie sehr ihr das Dazulernen fehlte
© Thomas Pirot / Capital

Diese Routine, dieses Okay-Gefühl, das taucht bei vielen Menschen auf, spätestens nach dem 40. Geburtstag. Die erste Karriere ist geschafft, für manche steht sogar schon das 15. oder 20. Firmenjubiläum an. Klar, man könnte jetzt einfach durchziehen, ein neues Projekt findet sich gewiss, die Chefs und die Kollegen werden es einem danken. Andererseits, ist es bis zum Ruhestand nicht noch sehr weit hin? Und soll das wirklich schon alles gewesen sein?

Kapp fehlte neues Futter fürs Gehirn, das musste woanders herkommen. Sie fing parallel an, sich tief in die Psychotherapie einzugraben, machte eine Ausbildung nach der anderen, von Traumatherapie bis Hypnose, alles immer neben dem Vollzeitjob. Bis sie eines Tages dann doch entschied: Ich kündige – und mache mich als Schlaftherapeutin selbstständig.

Ein Berufswechsel braucht gute Vorbereitung

Es ist wahrscheinlich eine der schwierigsten Fragen in der Lebensmitte: Wie viel Veränderung im Beruf ist man noch mitzumachen bereit, und auf wie viel Sicherheit kann und will man verzichten? Jenseits der 40 sind die meisten nicht mehr so frei und flexibel wie mit Mitte 20. Oft gibt es jetzt Kinder, einen Partner, die Kosten für Wohnung oder Haus laufen weiter, Kredite und Versicherungen wollen bedient werden und ein gewisser Standard, mit Sommerurlaub oder Restaurantbesuchen, gehalten. Außerdem drängt die Altersvorsorge, wenigstens am Horizont. Überall Verpflichtungen also, die nicht verschwinden, nur weil man sich mal ein bisschen Abwechslung wünscht.

Dabei sind Wechsel und Veränderungen sehr wohl möglich, auch nach 15 oder 20 Jahren, selbst mit Familie und Hauskredit. Sie müssen nur genauer geplant werden: Kontakte knüpfen, Interessen bekunden, sich umhören – all das will vorbereitet sein. Hinzu kommt der persönliche Kassensturz: Was ist an Rücklagen da, wie viel Geld fehlt noch für die Ausbildung der Kinder und für die eigene Altersvorsorge? Ja, klingt alles mühsam, aber kann sich lohnen. Das zeigen die Männer und Frauen auf den folgenden Seiten: Sandra Seitz-Atlama, die in der Pandemie merkte, dass sie mehr mit Menschen arbeiten möchte. Der PR-Redakteur Markus Ludwig, der nach Rom gezogen ist, um als Erzieher zu arbeiten. Oder Carina und Dirk Leven, die neben ihrem Job eine Reitschule gründeten.

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Nicht mehr meckern, sondern machen. Das ist die Kurzformel für das, was Experten empfehlen, die sich mit Weiterbildung beschäftigen. Sabine Votteler berät vor allem Führungskräfte bei der Umorientierung. „Alle haben finanzielle Sorgen“, sagt sie. Dabei seien es häufig diffuse Existenzängste. „Die persönlichen Finanzen sind für viele eine Blackbox“, so Votteler. Es helfe, alles aufzulisten und zu prüfen. „Viele sind erstaunt, wie groß ihr finanzieller Spielraum ist und wo Sparpotenzial schlummert.“

Bei Schlaftherapeutin Nina Kapp war der Preis hoch: Sie gab ihren gut bezahlten Führungsposten nach 20 Jahren auf und musste 28.000 Euro für die Ausbildungen und Zulassung zur Heilpraktikerin zahlen. Und gleich zu Beginn beglich ein Kunde ihr eine fünfstellige Rechnung nicht. „In solchen Momenten dachte ich: Was habe ich getan?“, sagt Kapp heute. Aber als Bankerin war sie vorbereitet, sie wusste, dass nicht alles von Beginn an rund laufen würde – und hatte einen Plan.

Viele Coaches, die Neustarts begleiten, beobachten, dass Menschen oft nicht so gut vorbereitet sind wie Kapp. Obwohl alle über lebenslanges Lernen und den großen Neuanfang philosophieren, haben viele der heute 40- bis 50-Jährigen einen Jobwechsel in der Lebensplanung nicht mehr vorgesehen. „Diese Generation steckt in der Zwickmühle. Der Arbeitsmarkt bewegt sich gerade erst hin zu mehrstufigen Karrieren“, stellt etwa Sebastian Kernbach fest, der als Assistenzprofessor an der Universität St. Gallen zu Verhaltensökonomie sowie Lebens- und Karriereübergängen forscht. Die heute 50- bis 60-Jährigen seien noch auf den geradlinigen Karrierepfad eingeschworen worden: Ausbildung, Karriere, Ruhestand. Zahlen des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen, dass es auch bei Jüngeren, den 30- bis 59-Jährigen, nicht wirklich anders ist. 22 Prozent von ihnen sind schon 20 Jahre und länger bei demselben Arbeitgeber. 31 Prozent sind es immerhin zwischen 10 und 19 Jahren.

Vielen fehlt der Mut

Auch Autorin und Arbeitsmarktexpertin Margaret Heckel bestätigt: „Nur wenige Menschen trauen sich, in der zweiten Lebenshälfte beruflich noch mal etwas Neues anzufangen.“ Für ihr Buch „Der Weg in den Unruhestand“ hat sie die Geschichten solcher Pioniere skizziert. Dazu gehörte auch Ebru Chaudhry. Die 50-Jährige startete ihre Karriere als Steuerexpertin bei der Direktbank ING und arbeitet dort seit nunmehr vier Jahren als Programmiererin. Ein Berufswechsel beim selben Arbeitgeber – bei diesem Neustart profitieren alle: Chaudhry war nicht auf sich allein gestellt, sondern konnte im vertrauten Umfeld starten, mit Rückhalt. Die ING wiederum konnte eine motivierte Mitarbeiterin halten und eine Lücke in einem Bereich schließen, in dem es an Personal fehlt.

In älteren Karrierewechslern stecke wertvolles Potenzial, das bisher nicht gehoben werde, findet Heckel. Gerade in der aktuellen Phase, in der Wirtschaftsflaute auf Fachkräftemangel trifft, sollten Unternehmen sich bemühen, auch älteren Mitarbeitern eine Umorientierung zu ermöglichen.

Das deutsche Berufsbildungssystem sei zu standardisiert, das erschwere die „Mobilität zwischen Berufen auf dem Arbeitsmarkt“, schreibt auch die Bertelsmann Stiftung. Dabei zeigten Daten, dass freiwillige Wechsel oft mit höheren Einkommen und größerer Zufriedenheit einhergehen.

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Warum machen es dann trotzdem so wenige? „Viele sind einfach zu bequem“, sagt Coach Votteler. „Veränderungen sind anstrengend, lösen Ängste aus. Da bleiben die meisten lieber, wo sie sind, und leiden weiter.“ Dieses Zaudern bemerkt sie selbst bei Führungskräften, die es eigentlich gewohnt sind, Entscheidungen zu treffen, Projekte voranzubringen und Lösungen für komplexe Probleme zu finden. „Aber wenn es um die eigene Weichenstellung geht, kann das ein zäher Prozess werden“, so Votteler.

Und wenn der Wille zum Wechsel da ist? Wagen manche den Sprung aus dem Stand heraus, von einem Job in den nächsten. Erfahrene Coaches raten allerdings, sich vorzutasten und zunächst ein paar Fragen zu beantworten.

Eine lautet: Was willst du?

Die meisten wüssten, was sie nicht mehr wollen, so Votteler. Die wenigsten wüssten jedoch, was es stattdessen sein soll.

Weitere Fragen lauten: Was sind deine besonderen Fähigkeiten? Was machst du am liebsten? Worin hast du die meisten Erfahrungen? Wo könnten deine Stärken von Nutzen sein? Aus der Schnittmenge dieser Antworten kristallisiere sich meist eine gute Idee für den Neustart, weiß Votteler aus der Praxis. Aber einfach ist diese Aufgabe nicht.

Nach der Theorie kommen erste Übungen: Wer einen neuen Job, einen interessanten Beruf oder ein vielversprechendes Unternehmen vor Augen hat, sollte reinschnuppern. Über soziale Netzwerke wie Linkedin ließen sich meist recht einfach Menschen kontaktieren, die dort arbeiten, rät Votteler. Und wer dann das Gespräch auf Chefebene sucht, sollte nicht als Bittsteller antreten, sondern seine Erfahrungen als wertvollen Beitrag für das Unternehmen präsentieren. „Man sollte mit über 40 andere Strategien anwenden als in jungen Jahren“, sagt sie. Bewerbungen auf Stellenanzeigen gehörten nicht dazu. „Wer 200 Bewerbungen in fünf Monaten schreibt und nur Absagen kassiert, macht etwas falsch.“

Vier Jahre nach dem Sprung in ihre zweite Karriere schläft Nina Kapp besser – nicht nur, weil sie heute Schlaftherapeutin ist. Die Unsicherheit hat sich ausgezahlt, mittlerweile betreut sie etliche Kunden, gibt Workshops und produziert einen Podcast. „Wir haben doch nur dieses eine Leben“, sagt sie. „Und ich habe noch so viel vor.“

Dieser Artikel erscheint in „Capital“ und im stern. Beide Magazine gehören zu RTL Deutschland.