Erstmals will die AfD eine Kanzlerkandidatin stellen. Doch kann das gut gehen? Alice Weidel wirkt widersprüchlich. Das könnte ihr im Wahlkampf zum Verhängnis werden.

Für Alice Weidel ist es der bisherige Höhepunkt ihrer politischen Karriere: Am Samstag nominiert der Parteivorstand die 45-Jährige als erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte der AfD. Weidel ist damit die unangefochtene Nummer eins in einer notorisch unruhigen Partei, die ihren Vorsitzenden oft das Leben schwer gemacht hat. Die AfD-Politikerin polarisiert: Eisige Schärfe in Wortwahl und Auftreten prägen Weidels Bild in der Öffentlichkeit.

Hinter diesem Bild verbirgt sich eine Politikerin, deren Profil nach jahrelangem Lavieren zwischen den Lagern der von Rechtsextremisten durchsetzten AfD unscharf und widersprüchlich erscheint. Noch komplexer wird das Bild durch Weidels private Lebensverhältnisse als Frau, die in einer lesbischen Partnerschaft mit einer in Sri Lanka geborenen Frau zwei Kinder großzieht.STERN PAID Alice Weidel AfD Interview 09.17

Wofür steht Alice Weidel also, wie radikal ist sie? „Sie befördert zumindest den Rechtsradikalismus in Deutschland“, sagt der Kasseler Politikprofessor und AfD-Kenner Wolfgang Schroeder. Weidel habe in der AfD aufsteigen können, weil sie politisch so flexibel sei: „Sie pendelt zwischen einem konservativen Rechts- und einem Rechtsradikalkurs.“

„Eine Opportunistin“

Als Frau in einer von Männern dominierten Partei ist Weidel eine Ausnahmeerscheinung. Weidels Aufstieg in der AfD zur Partei- und Fraktionschefin sei „auf den ersten Blick schon verwunderlich“, sagt die Politikwissenschaftlerin Anna-Sophie Heinze von der Universität Trier. „Sie hat als westdeutsche Frau, auch als homosexuelle Frau, einige Probleme, das mit der Ideologie ihrer Partei in Verbindung zu bringen.“

Im Kern sei Weidel „eine Opportunistin“, urteilt Heinze. „Sie versucht, von dem Thema Homosexualität wegzulenken. Wenn sie darauf angesprochen wird, versucht sie, es sehr stark in Richtung Anti-Gender und pro christlich-konservative Werte zu drehen.“STERN PAID 28_23 Wie redet man mit Rechten? 11.04

Im anstehenden Wahlkampf schlägt die Weidel-AfD einen nationalistischen Tonfall an: Sie will raus aus EU und Eurozone, fordert eine strikte Anti-Migrationspolitik, will das Recht auf Abtreibung einschränken und traditionelle Familienmodelle stärken.

Alice Weidel erscheint vielen widersprüchlich

Der Grünen-Abgeordnete Sven Lehmann, der das Amt des Queer-Beauftragten der Bundesregierung innehat, verweist auf „Hass und Häme“ aus der AfD gerade gegenüber nicht-traditionellen Familienmodellen – und auf die Widersprüchlichkeit der Kandidatin Weidel. „Wie viel Selbstverleugnung muss Alice Weidel wohl jeden Tag aufbringen, um Vorsitzende dieser AfD zu sein?“, sagt Lehmann.

Als Grund für ihren Eintritt in die neu gegründete AfD 2013 nannte die promovierte Volkswirtin Weidel ihre Gegnerschaft zur Euro-Rettungspolitik der damaligen Bundesregierung. Als Mitarbeiterin eines Vermögensverwalters und einer Investmentbank hatte sie Karriere gemacht, jahrelang lebte sie in China.AfD will offenbar Junge Alternative auflösen 09.00

Inzwischen ist Weidels zentrales Thema der angebliche Zerfall der inneren Sicherheit als Folge der Zuwanderung. In ihren Reden im Bundestag polemisiert Weidel regelmäßig gegen Zugewanderte. Mit kalter Verachtung spricht sie von „Messermännern“ und „Kopftuchmädchen“.

Kanzlerkandidaten braucht beide AfD-Flügel

Die erstmalige Nominierung einer Kanzlerkandidatin markiert möglicherweise den Beginn einer neuen Phase in der AfD. Bislang gefiel sich die Partei in der Rolle der Fundamentalopposition. Mit Weidels Kür zur Kanzlerkandidatin erhebt die AfD nun deutlicher als bisher den Anspruch auf politische Mitgestaltung.

In bundesweiten Umfragen ist die AfD aktuell zweitstärkste Partei – und dabei aber „weit entfernt von jeder Koalitionsfähigkeit“, wie Politikprofessor Schroeder sagt. Schroeder sieht Weidel als Vertreterin des „parlamentsorientierten Flügels“ in der AfD, der langfristig als Teil einer Koalition regieren will. Weidel müsse aber zugleich auch jenen Teil der Partei bedienen, den der Professor als „straßenorientierten Flügel“ bezeichnet.

Dies sei ein Flügel, „der eine grundlegende Transformation der Bundesrepublik Deutschland jenseits der freiheitlich-demokratischen Grundordnung anstrebt und eine zutiefst völkische, autoritäre, nationalistische Position vertritt“, sagt Schroeder. Des Rückhalts ihrer Partei könne sich Weidel nur sicher sein, wenn sie beide Flügel bediene – ein Balanceakt. Eine Kanzlerin Weidel dürfte es also so bald nicht geben.