Dieses Tor in der Nachspielzeit weckt Sommermärchen-Erinnerungen. Niclas Füllkrug trifft gegen die Schweiz nach einer Raum-Flanke ganz spät. Ein Knackpunkt-Moment wie 2006 bei Odonkor und Neuville.

Niclas Füllkrug sprach von „einer kleinen Explosion“, als nach seinem Joker-Tor in der Nachspielzeit das Frankfurter EM-Stadion bebte und die Teamkollegen im orkanartigen Jubel über ihn herfielen. Eine kleine Explosion? Die Szenerie nach der scharfen Flanke von David Raum und dem butterweichen Kopfball des Dortmunder Torjägers ins lange Eck zum 1:1-Endstand gegen die Schweiz erinnerte viele Beobachter an das legendäre WM-Tor von Oliver Neuville 2006.

Vor 18 Jahren war das 1:0 in Dortmund gegen Polen, als der eingewechselte Neuville ebenfalls in der Nachspielzeit die Hereingabe des ebenfalls eingewechselten David Odonkor im Rutschen über die Torlinie drückte, die Initialzündung zum deutschen Sommermärchen. Ein historischer deutscher Turnier-Moment. „Die kamen auch beide damals von der Bank und haben das eine entscheidende Ding gemacht“, erinnerte Füllkrug, der damals 13 Jahre jung war. Auch jetzt könne dieses „Fifty-fifty“-Tor von Raum und ihm „ein Knackpunkt-Moment“ für den weiteren Turnierverlauf sein. Ein neuer großer Moment in der DFB-Historie.

Ein Tor mit Ansage: „Fülle, du weißt Bescheid…“

Es war jedenfalls die emotionale Krönung der Gruppenphase bei der Heim-EM, die dank Raum und Füllkrug doch noch mit Platz eins endete. Und es war ein Tor mit Ansage, wie der glückliche Flankengeber Raum verriet. „Ich habe zu Fülle schon beim Aufwärmen gesagt: Wenn wir heute beide reinkommen, weißt du Bescheid, wenn ich den Ball kriege“, erzählte der 26 Jahre alte Leipziger nach seinem ersten Turniereinsatz völlig losgelöst: „Zweimal wurde die Flanke geblockt, die Dritte kam an – und Fülle macht den überragend rein.“

Der BVB-Stürmer spielte dabei seine ganze Erfahrung aus. „Ich musste Tempo aus dem Ball rausnehmen, sonst wäre er drüber gegangen“, erklärte Füllkrug seinen sanft ins lange Eck platzierten Kopfball. Es war Füllkrugs 13. Tor im 19. Länderspiel, eine Topquote. „Es war ein ganz wichtiger Moment, fürs Land, für uns, für die Mannschaft, für die Spieler“, sagte er.

Nun ein Startelf-Einsatz beim Heimspiel in Dortmund?

Und natürlich für ihn persönlich. Das Tor zum Gruppensieg ist sein Bewerbungsvideo für einen Startelfeinsatz in seinem Heimspiel, das nun am Samstag (21.00 Uhr) zum Start in die K.o.-Runde steigt. „Ich freue mich jetzt riesig auf ein Achtelfinale in Dortmund, weil das mit Sicherheit ein riesiger Heimvorteil sein wird“, sagte der Profi von Borussia Dortmund.

Der Bundestrainer aber legte sich spontan nicht auf eine Rollenänderung auf der Mittelstürmerposition fest. Zumal der Gegner erst am Dienstagabend feststehen wird und damit das Profil des Spiels. „Ja, die hat er“, sagte Julian Nagelsmann zu Füllkrugs Startelf-Chance. „Aber die hat Kai genauso“, fügte er sofort hinzu. Der angesprochene Havertz habe vorne „ein gutes Spiel“ gemacht, lobte Nagelsmann. Die Hierarchie besteht wohl weiter.

Topjoker Füllkrug: Fünf Turnierspiele, vier Tore

„Kai hat schon drei gute Chancen gehabt und sich geärgert, dass er zwei davon nicht gemacht hat“, sagte Nagelsmann. Und Fülle? Erfüllte seinen Job, als er reinkam. „Das sind auch so Momente, die wir brauchen. Er liefert Argumente für beide Sachen, weiter als Joker zu fungieren oder auch von Anfang an. Das ist Freude und Leid für ihn zugleich, dass er die Rolle gut macht.“

Sehr gut sogar. In insgesamt fünf Turnierspielen hat Füllkrug jetzt viermal getroffen – und das immer als Joker von der Bank. Bei der WM 2022 traf er gegen Spanien (1:1) und Costa Rica (4:2), bei der laufenden Heim-EM gegen Schottland (5:1) und die Schweiz. „Eigentlich bin ich es nicht gewohnt, als Joker zu spielen“, sagte der Mann, der in die erste Elf drängt, aber das verbal nicht zu laut einfordern wollte. Sein Dortmund-Hinweis war noch der deutlichste.

Füllkrug weiß halt um die Rollenverteilung im Team. Havertz ist vorne die Nummer eins, er ist der Herausforderer. Und diesen Job nimmt er an. „Hinten raus hilft es dann, wenn du Spieler einwechseln kannst, die gewisse Waffen mitbringen. Davids Flanke ist eine Waffe. Seine Flanken sind prädestiniert für den Kopfball. Und wenn du dann eine gute Boxbesetzung hast, dann hilft das“, sagte Füllkrug. Er ist dieser Mann für die Box, also für den Strafraum.

Glücklicher Raum wartete auf seinen Turniermoment

Füllkrug drängt sich auf. Und auch Raum punktete als Herausforderer des Stuttgarters Maximilian Mittelstädt auf der linken Seite. „Das war ein brutal geiler Moment. Ich habe gehofft, dass ich einen Turniermoment bekomme“, sagte der Leipziger. Der Bundestrainer weiß jetzt, dass Flanke Raum, Kopfball Füllkrug im Turnier funktionieren kann.

„Wir wissen von David, dass er gut flanken kann. Das ist seine größte Stärke. Und Fülle ist ein brutaler Kopfballspieler“, sagte Nagelsmann. Auf jeden Fall kreierten Füllkrug und Raum schon jetzt einen Turniermoment, der in jeden deutschen EM-Rückblick gehören wird.