Fühlen Sie sich alt, wenn Wusiala die EM verzaubert? Verständlich. Wenig führt die eigene Sterblichkeit derart gnadenlos vor Augen wie ein großes Fußballturnier. Zeit, sich von einem Kindheitstraum zu verabschieden. Aber keine Sorge: Sie sind nicht allein. Unser Autor fühlt mit Ihnen.

Sie sind Ü30? Dann schließen Sie bitte einen Moment Facebook (am besten für immer) und hören Sie zu. Sie müssen jetzt ganz stark sein. Bereit? Nein? Egal, zu spät. Aufgepasst:

Sie werden kein Fußballprofi mehr. 

So, jetzt ist es raus. Tut erstmal weh, klar. Aber, hey! Kopf hoch – Sie sind nicht allein. Auch für mich ist mit Beginn dieser EM endgültig ein, ach was, der Kindheitstraum geplatzt. Beim letzten Mal, mit 27, habe ich mir gesagt: „Jetzt bist du im besten Fußballer-Alter, ran da!“ Heute, mit 31 Jahren, wäre ich im besten Fall „erfahren“, im schlimmsten Fall wären Tom Bartels und Almuth Schult verblüfft davon, „dass der in dem Alter noch so in den Sprint geht!“

EM-Generation Wusiala: Die Zukunft übernimmt

Ja, der Zahn der Zeit, der nagt dieser Tage nicht bloß an mir. Er zerfleddert mir mit der Beißkraft eines unkastrierten Rottweilers die ohnehin immer blasse Hoffnung auf ein Leben als Rasengott. EM-Geschichte: Triumphe + Tragödien 12:39

Dieser Monat ist für mich ein Auf und Ab der Gefühle. Als mit Musiala und Wirtz die Zukunft des deutschen Fußballs in München erste EM-Luft schnupperte, hätte ich mir als Übersprungshandlung beinahe einen Tiktok-Account erstellt und Fortnite installiert. Aber ich will mir nichts mehr vormachen. Das letzte bisschen Grün hinter den Ohren ist bei mir irgendwann zwischen erstem Gehalt und letzter WG-Party abgeblättert.

Wobei, was ist schon ein Jahrzehnt? Vielleicht schaffe ich’s ja noch auf die große Fußballbühne. Ich würde schließlich nicht bei Null anfangen. In meiner Jugend habe ich doch „quasi auf Bundesliganiveau gespielt“. Ach, Sie auch? Schau an, wie klein die Profiwelt doch ist. War’s bei Ihnen auch eine Knieverletzung? Oder die erste Zigarette? Ich weiß es nicht mehr genau. Mit zunehmendem Alter leidet mein Gedächtnis.

Ich ertappe mich inzwischen bei Gedanken wie: „Krass, wie klein Schienbeinschoner heutzutage sind“. Heutzutage. Als ob das Wort „krass“ nicht schon cringe genug wäre. Oder ist cringe schon cringe? Die Gefilde der Absichtlich-Nichtverstandenen habe ich lange hinter mir gelassen. Ich steuere zielsicher auf die Insel der „Sagt-Man-das-noch-Soanern“ zu, von deren Küste mir Susanne Daubner fröhlich zuwinkt. 

Beim Gedanken an Public Viewing krieg‘ ich Rücken

Auch das Zuschauen ist bei dieser EM irgendwie anders. Früher Brüllen und Becherbier, heute Schweigen und Sodastream. Entfleucht bei einem besonders ansehnlichen wusialschen Kunststück doch mal ein mauer Jubellaut, so legt der Freund einen Couchtisch-Untersetzer entfernt mahnend den Zeigefinger auf die Lippen. Pssst. Dessen Töchterchen schläft nebenan.

Aber was soll ich machen? Raus gehen? Rudelgucken? Allein beim Gedanken an Public Viewing krieg‘ ich Rücken. Und außerdem wäre ich erst spät zu Hause – und ich muss ja morgen arbeiten, Geld verdienen, erwachsen sein. Während ich die Symptome von Hexenschuss google, verstößt ein 16-jähriger spanischer Teenager namens Yamal gegen das Jugendgesetz, weil er nach 23 Uhr den EM-Traum einer ganzen Nation am Leben erhält. Und der muss am nächsten Morgen auch früh raus. Erste Stunde Mathe. 

Plan B: ein rheinischer Thomas Müller

Körperlich kommt mir so ein Leben als Profikicker inzwischen wenig erstrebenswert vor.

Wenn ich den in etwa gleichaltrigen Niclas Füllkrug wibbelig auf der Bank hocken sehe, heißhungrig auf jede Minute Auslauf, betrachte ich eine andere Spezies. Würde man mir mit der Einwechslung drohen, entfleuchte mir beim Aufraffen trotz fehlendem Nachwuchs ein respektabler Dad-Noise – ein markantes Geräusch irgendwo zwischen schlecht geöltem Gartentor und ausgeprägtem Weltschmerz-Seufzer.

Flagge Zeigen Kommentar 13.18Nein, wenn ich schon spätzündeln müsste, dann doch eher als eine Art rheinischer Thomas Müller. Vom Spielfeldrand dauersenden und im Anschluss nen‘ kecken Spruch in die Kamera zirkeln? Da seh‘ ich mich.

Bastian Schweinsteiger – Legende an Ball und Kamm

Vielleicht überspringe ich die „aktive“ Fußballerkarriere aber einfach und werde direkt Trainer. So schwer kann das nicht sein. Mal ehrlich: Die zimmern ihre Startelf doch auch nur am Vorabend über die Fifa-Spieler-Werte auf der Playstation zusammen. Dazu noch ein paar Ecken und Kanten, eine Prise Nahbarkeit und das vage Versprechen einer Vision – fertig ist der Kultcoach. „The Normal One“ war gestern. Ich wäre „The One“! Klingt griffig, spart Druckertinte. Nachteil: Alle wüssten es besser als ich. So weit kommt’s noch. Wer war denn Fußballprofi? Die oder ich? Ah, stimmt.

Dann eben Plan C: Ich lasse den ganzen Spökes und verdiene mir meine Bitcoins als Experte. Klugscheißen, das ist mit meinem aktuellen Job sowieso artverwandt. Und in meinen 30ern gehöre ich im Fernsehen auch noch zu den jungen Wilden, die Erwartungen allein schon übertreffen, weil sie ein Smartphone mit mehr als einem Finger gleichzeitig bedienen und das Internet nicht mehr als „das Netz“ bezeichnen.

Vorbilder gibt’s da genug. Wenn dieser einem Ansons-Katalog entstiegene Bastian Schweinsteiger mit mintfrischem Colgate-Lächeln der Nation die reine sportliche Wahrheit einschenkt, und sich in seinen Ausführungen nicht einmal von Kleinigkeiten wie der „Tagesschau“ hetzen lässt, bin ich fasziniert. Nicht allein von der messerscharfen Analyse, sondern von diesen Haaren. Von deren Farbe, einem teures Gorch-Fock-Grau, das Clooney alt aussehen lässt und deren Wurzeln tiefer reichen als der Anker eines Öltankers im Marianengraben. Eine Legende, der Mann. Am Ball und am Kamm. 

Zu neuen Ufern

Aber das ist alles nicht dasselbe. Fußballprofi, das stand in meinem Diddl-Freundebuch. Nicht Bankwärmer, nicht Trainer, nicht Experte. Ein Held in Stutzen, das war der Plan. Das hab ich mit zwölf jedem, der es hören (und auch nicht hören) wollte großmäulig versprochen. Wobei: Ich wollte damals auch Ritter werden. Insofern: Bis 40 lerne ich reiten. Versprochen.