Was für ein Spiel! In Gelsenkirchen erleben die Zuschauer eine Demonstration höchster spanischer Fußballkunst. Mit der „Furia Roja“ hat die EM jetzt ihren großen Titelfavoriten.

„Wir haben heute Italien total bespielt, wir haben gezeigt, dass wir das Zeug dazu haben, Italien abzufiedeln“, sagte Luis de la Fuente nach diesem Spiel vor der versammelten Fußball-Presse, wobei man nicht genau wusste, ob der Dolmetscher den Trainer der spanischen Nationalmannschaft da nicht sehr freihändig übersetzt hatte. 

Aber „abfiedeln“ ist ein sehr schönes Wort. Sehr passend zu dem, was an diesem Abend in der Betonkiste der Gelsenkirchener „Veltins“-Arena vor sich gegangen ist.

Italien „abgefiedelt“: immerhin eine Fußball-Großmacht mit vier Weltmeister- und zwei Europameistertiteln. Abgefiedelt auch noch unter den Augen des eigenen Königshauses: Mit dunkler Wagenkolonne war Felipe VI. von Spanien rechtzeitig vor Anpfiff angebraust, um, abgeschirmt von einer ganzen Hundertschaft deutscher Bereitschaftspolizei, umgehend in der „UEFA-VIP-Lounge“ zu verschwinden. Weltlicher Hochadel trifft fußballerischen Hochadel – mehr geht nun wirklich nicht. 

EM-Geschichte: Triumphe + Tragödien 12:39

Em 2024: Spanien fegt über Italien hinweg

Kein Fußball-Spiel war das, was da gestern Abend zu besichtigen war. Sondern eine Demütigung. „La Furia Roja“, die „rote Furie“ aus Spanien, war wie ein Tsunami über die Italiener hinweggefegt und hatte die stolze „Squadra Azzurra“ in ihre Bestandteile zerlegt. „Völlig losgelöst“ – in der spanischen Version.

Immer wieder ehrfürchtiges Raunen auf den Rängen, wenn die spanische Flügelzange mit den beiden Himmelsstürmern Nico Williams und Lamine Yamal zu ihren Tänzchen ansetzte durch bemitleidenswert hilflose wirkende italienische Abwehrreihen. Das, was diese beiden Halbstarken anstellten, muss sich für Dimarco, Calafiori, Bastoni, Barella und all die anderen angefühlt haben wie bosnisches Hütchenspiel: Wo ist die kleine weiße Kugel wohl gerade jetzt? 

Irgendwann in der Mitte der zweiten Halbzeit breitete der italienische Torhüter Gianluigi Donnarumma, der mit einer Weltklasse-Parade nach der anderen seine Mannschaft noch so gerade im Spiel gehalten hatte, beide Arme weit aus zu einer Geste tiefer Verzweiflung. Vorne rieben sich unterdessen Chiesa und Scamacca im vergeblichen Bemühen auf, auch mal irgendwann mit dem Ball wenigstens in Kontakt zu kommen. Als die beiden in der 64. Minute ausgewechselt wurden, wirkten sie, als müssten sie sofort unters Sauerstoffzelt. Im spanischen Fanblock sangen sie da schon „Eviva España“. 

Man sah und staunte. 

Wie der lange Rodri ein ums andere Mal aus dem Mittelfeld lange Bälle mit tödlicher Präzision hinter die letzte Linie der Italiener setzte. Wie Cucurella, Linksverteidiger mit wilder Mähne im Argentinien-Look, durch geradezu unverschämt offensive Sturmläufe den gegnerischen Abwehrblock von der Seite aufriss. Wie der nimmermüde Morata in der Sturmmitte augenblicklich zum Gegenpressing ansetzte, sobald die Italiener endlich mal an den Ball gekommen waren, so nah am Fünf-Meter-Raum, als wolle er Italiens Schlussmann Donnarumma persönlich in sein Tor drücken. Und, wie Yamal, das Wunderkind, die plötzlich sehr hüftsteif wirkenden italienischen Defensiv-Profis wie Slalomstangen stehen ließ. Der Junge ist 16 und trägt noch Zahnspange. 

Kein langweiliges „Tiki-Taka“ mehr

Glückliches Spanien. Diese „Goldene Generation“ spielt nicht mehr ermüdenden Breitwand-Fußball im Tiki-Taka-Stil wie einst Iniesta, Xavi und Co. Sofort wird bei Ballbesitz die „Tiefe gesucht“, der tödliche Pass in Richtung Tor, und nach Ende jeder Angriffsaktion gehen alle auf Bällejagd, eine wilde Hatz in unfassbarem Tempo, immer weiter und weiter. „Högschte Intensität“ würde Joachim Löw das wohl nennen, so atemlos ging es durch die Nacht in der „Veltins“-Arena. Dem gemeinen Fußball-Freund blieb nicht mal Zeit, sich zwischendurch ein Bier zu holen, wenn er nichts verpassen wollte. Viele Besucher waren auch nach dem Schlusspfiff noch wie betäubt von der Demonstration höchster Fußballkunst, der sie beiwohnen durften.

Spanien – Kroatien, 15.06.24 22.30h

Diese EM ist nicht mehr dieselbe wie vorher. Das Turnier hat mit Spanien jetzt einen absoluten Topfavoriten. „Italia che lezione dalla Spagna“ titelte die „Gazzetta dello Sport“ schon eine gute halbe Stunde nach Schlusspfiff – „Italien, was für eine Lektion aus Spanien“. Ein Reporter aus dem Heimatland fragte Italiens „Commissario tecnico“, Luciano Spalletti auf der Pressekonferenz nach der Begegnung: „Was für positive Ansätze kann man für die Zukunft des italienischen Fußballes aus diesem Spiel ziehen?“, was die Vermutung nahelegt, dass der Mann über einen feinen Humor verfügt. Denn dieses 0:1 hätte locker auch ein 0:4 oder 0:5 sein können. Allenfalls, dass die Spanier mit ihren unfassbar vielen Torchancen sehr verschwenderisch umgingen und den einzigen Treffer qua Eigentor auch noch den Italienern überließen, mag als Schönheitsfehler durchgehen in all dem Schönen, was sie auf den Platz zauberten.

Julian Nagelsmanns Abteilung Gegnerbeobachtung steht vor einer gewaltigen Aufgabe. Denn so viel dürfte klar sein: An diesen Spaniern wird bei der EM kaum ein Weg vorbeiführen. Die überzeugenden Auftritte des DFB-Teams gegen Schottland und Ungarn wurden bejubelt. Aber sie wirken nach diesem Abend in Gelsenkirchen plötzlich nur noch wie Übungseinheiten auf dem Weg zum ersehnten Titel.