In Grevesmühlen haben sich nach einem rassistischen Übergriff 460 Menschen zu einer Menschenkette versammelt. Dabei ging es nicht nur darum, ein Zeichen zu setzen.

Das Zeichen des Zusammenhalts sind in Grevesmühlen kurze, bunte Stoffseile. Am Donnerstagnachmittag kann man ihnen durch die Plattenbausiedlung am Ploggenseering folgen, etwa 460 Grevesmühlener greifen die Bänder an je einem Ende, halten sich daran fest. Und damit auch am Glauben daran, dass ihre Kleinstadt mehr ist, als das, wofür sie in den vergangenen Tagen deutschlandweit in den Nachrichten war. 

Dort stand Grevesmühlen vor allem da als der Ort, an dem manche Kinder und Jugendliche Springerstiefel und Glatze tragen. Am vergangenen Freitag wollten einige von ihnen ein kleines Mädchen mit ghanaischen Wurzeln auf ihrem Roller zu Fall bringen und beleidigten später dessen Familie rassistisch.

Grevesmühlen rassistischer Übergriff 18.08

Es ist nicht so, dass rechtsextreme Jugendliche in Grevesmühlen ihre Gesinnung vor vergangenem Freitag besonders versteckt hätten. Laut Polizei sangen sie auf einem Stadtfest ausländerfeindliche Parolen, einige präsentierten sich auf Instagram mit dem Hitlergruß. Dem stern berichteten mehrere Schüler der Schule am Ploggenseering, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund dort regelmäßig von Mitschülern beleidigt werden. 

„Gehen Sie mal nach 21 Uhr in den Bürgerpark“, raunt ein Einwohner. Dort sollen sich regelmäßig rechte Jugendgruppen treffen. „Dann wissen Sie, was hier los ist.“ Doch die meisten aus Grevesmühlen gehen nicht nach 21 Uhr in den Bürgerpark.

Es kann schmerzhaft sein, wenn der Ort, in dem man lebt, vielleicht sogar aufgewachsen ist, bundesweit negative Schlagzeilen macht. Einige flüchten sich deshalb in Gerüchte: „Waren die Täter überhaupt Deutsche?“, fragt einer. Die Polizei sagt dazu: Ja, die Tatverdächtigen hatten keinen Migrationshintergrund.

Siedlung in Grevesmühlen: Hier leben Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zusammen
© Alexander Schreiber/stern

Bei der Menschenkette geht es auch darum, die Deutungshoheit zurückzugewinnen

Andere versuchen sich mit der Menschenkette am Donnerstag die Deutungshoheit über ihren Ort zurückzuholen. Bürgermeister Prahler etwa. Er hatte gemeinsam mit einem Bündnis und Kirchen zu der Versammlung aufgerufen. Und sagt, „zahlreiche Unternehmen, Institutionen, Vereine und Privatpersonen“ hätten gefordert, dass die Stadt ein eindeutiges Zeichen setzen müsse. Für Toleranz, gegen Rassismus. Zur Wahrheit gehört: Grevesmühlen, 15 Autominuten von der Ostseeküste, lebt auch vom Tourismus, und die negative Berichterstattung ist für die lokale Wirtschaft ein Risiko.

Aber da ist noch mehr: Es gibt noch ein Grevesmühlen, das ganz anders ist als es gerade von außen scheint. Da ist etwa „Das Eck“, ein offener Kunstraum, der in Projekten Geflüchtete und Einheimische zusammenbringt. Da ist der Betreiber eines Dönerladens, der sagt, die Jugendlichen seien immer freundlich zu ihm. Oder die Schülerin, die mit dem Jutebeutel einer linken Partei durch die Stadt läuft und erzählt: Klar hätten viele Mitschüler eine ganz andere politische Einstellung, aber Probleme hätte sie deshalb noch nie gehabt.

Schon am Montag hatten einige Grevesmühlener versucht, dem Eindruck entgegenzuwirken, im Ort dominiere der Rassismus. Mehr als hundert von ihnen versammelten sich am Rande des Fußballfeldes des Vereins „Einheit Grevesmühlen“, in dem auch der Vater der aus Ghana stammenden Familie trainiert. Auf einem selbstgemalten Banner war zu lesen: „Gegen Gewalt, Zusammenhalt.“ Auch ein weiterer Verein in Grevesmühlen verurteilte den Angriff und kündigte den Ausschluss von Jugendlichen an, die an dem Übergriff beteiligt waren, wie der stern vor Ort erfuhr.

Zeichen für Toleranz: Diese Plakate wurden in Grevesmühlen am Sportplatz verteilt
© Valentin Dreher/stern

Die Menschenkette in der Plattenbausiedlung soll noch einmal unterstreichen, dass Rassismus hier keinen Platz habe. Dorthin ist auch Mecklenburg-Vorpommerns Kulturministerin Bettina Martin (SPD) gekommen. Sie hat sich eingereiht, ist heute Abend nur eine von vielen. Die Absprache mit dem Bürgermeister: Heute Abend soll es keine politischen Reden geben, sodass sich niemand von der Veranstaltung ausgeschlossen fühle. So hört man es aus dem Rathaus. Dem stern gegenüber sagt Ministerin Martin vor der Veranstaltung: „Wir dürfen uns an Vorfälle wie in Grevesmühlen niemals gewöhnen.“

Und sie mahnt: „Es braucht konkrete Maßnahmen, die sich natürlich nicht auf reine Symbolik beschränken dürfen. Das umfasst viele Bereiche, von der Bildung über die Jugend- und Sozialarbeit bis hin zur Strafverfolgung.“ Sie wolle jetzt mit „allen Beteiligten“ diskutieren, ob in diesen Bereichen mehr getan werden könne.

Bürgermeister von Grevesmühlen: „Können nicht alle erreichen“

Für Bürgermeister Prahler bedeutet das auch: Druck von ganz oben. Er bemüht sich derweil um Schadensbegrenzung. Schließlich habe er in Grevesmühlen schon viel getan zur Rassismusprävention: Die Stadt habe mehr Schulsozialarbeiter eingestellt, betreibe mit der Diakonie einen Jugendclub und unterstütze antirassistische Projekte. Mit Blick auf den Übergriff räumt Prahler aber ein: „Es ist festzustellen, dass wir mit diesen Projekten und stetigen Angeboten offenkundig nicht alle erreichen können.“

Der Vorfall im Proggenseering ist längst zum Politikum geworden, wohl auch, weil die Polizei den Übergriff zunächst brutaler darstellte, als er nach aktuellen Ermittlungen war. Denn am Freitag hatte die Polizei noch bekannt gegeben, das achtjährige ghanaische Mädchen sei ins Gesicht getreten worden. Später musste die Polizei zurückrudern: Einen solchen Tritt habe es nicht gegeben. Für die Beamten ist das ein PR-Desaster. Aber auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte den Vorfall schnell als „brutalen Angriff“ verurteilt und sprach von „unfassbarer Unmenschlichkeit“. Im Netz sorgte das nach der Richtigstellung der Polizei für Häme.

Sicher ist aber, dass ein Jugendlicher der ghanaischen Familie entgegenbrüllte: „Du kleines N****-Schwein! Sei weiter so frech und ich zieh dir eine!“ Das ist auf einem Video klar zu hören, das sowohl dem stern als auch der Polizei vorliegt.

Polizei ermittelt wegen Körperverletzung und Volksverhetzung

Danach wird es unübersichtlich: Offenbar kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen der Gruppe und der Familie. Die Polizei ermittelt wegen Körperverletzung, Beleidigung und Volksverhetzung gegen mehrere der Jugendlichen. Laut Polizei ist zudem Gegenstand der Ermittlungen, ob einer der Jugendlichen ein Messer bei sich getragen hat. Aber auch gegen den Vater des Mädchens ist inzwischen eine Gegenanzeige eingegangen.

Der Plattenbau am Ploggensee ist nicht nur Tatort. Er ist das Zuhause der ghanaischen Familie, auch das einiger der mutmaßlichen Täter, die nur ein paar Häuser weiter wohnen. Die Botschaft der Menschenkette geht an sie alle: Wir, die für Zusammenhalt stehen und gegen Rassismus, sind hier in der Mehrzahl – zumindest für einen Nachmittag.