Die SPD schiebt nach der EU-Wahl ordentlich Frust. Generalsekretär Kevin Kühnert gilt als einer der Hauptschuldigen für die Niederlage. Zurecht?

Kevin Kühnert sind die Strapazen anzusehen, er wirkt abgekämpft, könnte sicher mal ein paar freie Tage gebrauchen. Aber nützt ja nichts. In einem Leipziger Hinterhof dreht der SPD-Generalsekretär nochmal auf.

„Das ist zu wenig!“, ruft er den Genossen, Ehrenamtlern und Schaulustigen beim Hoffest des dortigen Kreisverbands zu. Die SPD in Sachsen habe nur rund 4000 Mitglieder, sagt Kühnert. Dann greift er in die Innentasche seiner Jacke, zückt einen SPD-Mitgliedsantrag. „Sollte irgendjemand im Laufe des Abends das Bedürfnis verspüren…“ 

Jede Stimme, jeder Einsatz zählt: Mit dieser Botschaft trat der Generalsekretär vor der Europawahl überall auf, ob in Leipzig oder anderswo. Wahlkampf und Mobilmachen – das kann der Kühnert.

Oder?

Wenige Tage nach dem Auftritt in Leipzig fährt die SPD eine historische Niederlage ein, die auch dem Generalsekretär angelastet wird. Nur 13,9 Prozent haben die Partei bei der EU-Wahl gewählt. Ein Desaster. Noel Robinson

Der groß plakatierte Kanzler zog nicht, sein Friedenswahlkampf verpuffte. Mehr als zwei Millionen sozialdemokratische Wähler wanderten ins Nichtwählerlager ab, weitere Hunderttausende zu den Populisten von links und rechts. Die Genossen sind geschockt, ratlos. Der Kanzler muss nun endlich in die Offensive kommen, heißt es aus der Kanzlerpartei, doch auch der Generalsekretär gerät massiv unter Druck.

Kühnert hat die missglückte Kampagne zu verantworten, sich im Eifer des Gefechts teils unangenehme Pannen geleistet. Von vereinzelten Rücktrittsforderungen ist die Rede, wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Plötzlich gilt der Generalsekretär, dessen Karriere bislang wie am Schnürchen verlief, vielen als Schuldiger für das Debakel. Was ist da los?

Kevin Kühnert und die „Kontaktschande“

Die Genossen hatten die Ergebnisse kaum verdaut, da machte der Generalsekretär schon mit einer kontroversen Deutung der Wahlniederlage auf sich aufmerksam. Viele fühlten sich von der Ampel-Politik nicht repräsentiert, sagte Kühnert in einem Fernsehinterview. Mit Blick auf die Koalitionspartner fügte er hinzu, da spiele etwas rein, „was ich mal fast Kontaktschande nennen würde“.

Im Grunde genommen sind Grüne und FDP für das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten verantwortlich, so ließ sich das verstehen. Ein Ablenkungsmanöver, auch in eigener Sache?

Kühnert versuchte den Eindruck, der da entstehen musste, wieder geradezurücken. Doch das Entsetzen der Ampel-Partner war zu laut. Auch SPD-Co-Chef Lars Klingbeil distanzierte sich von jenem Mann, der eigentlich als sein politischer Buddy gilt: Es helfe nichts, auf andere zu zeigen. Und gab ihm – zumindest indirekt – einen mit. „Es gibt einige Dinge im Wahlkampf, die mir nicht gepasst haben“, sagte Klingbeil. Diese müssten jetzt aufgearbeitet werden.

Tatsächlich ist es zu einigen Pannen im Wahlkampf gekommen, auch in den sozialen Medien. Im Zuge der ausländerfeindlichen Sylt-Parolen veröffentlichte die SPD in den sozialen Medien ein Posting: „Deutschland den Deutschen“, war darauf in großen Lettern zu lesen, „die unsere Demokratie verteidigen“ in wesentlich kleinerer Schrift darunter. Sehr unglücklich. Der Beitrag verschwand, der Imageschaden blieb. Kühnert, so geht die Erzählung in der Partei, habe das Posting persönlich abgesegnet. Im Präsidium soll er sich darüber kurz vor der Wahl zerknirscht gezeigt haben. Eine Anfrage dazu ließ sein Team an diesem Montag unbeantwortet.

Delitzsch-SPD

Einen Tag nach der Wahl räumte Kühnert ein, dass er die Verantwortung für die Fehler im Wahlkampf trage, auch für die „technischen Fragen“. Einen Rücktritt schloss er für sich jedoch aus, verwies auf den SPD-Parteitag im Dezember, wo er mit 92,55 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt wurde. Ob das Vertrauen der Genossen in ihren Generalsekretär immer noch so ausgeprägt wäre? Fraglich. Ob er der Richtige ist, um einen Bundestagswahlkampf zu managen? Auch diese Frage wird aufgeworfen.

Dass sich nun viele Augen auf Kühnert richten, teils mit Enttäuschung, liegt auch an den hohen Erwartungen, die auf ihn projiziert wurden. Klare Rhetorik ist das eine, Organisation das andere – und in diesem Job vielleicht das wesentlich wichtigere. 

Als Juso-Chef scheute Kühnert keinen Konflikt, spitzte zu, prangerte an – damit trieb er die Große Koalition vor sich her, nicht zuletzt die SPD. Passt perfekt auf das Profil eines Generalsekretärs. Eigentlich. Doch als er 2021 ins Amt gewählt wurde, musste Kühnert rhetorisch abrüsten, plötzlich den Kurs der Kanzlerpartei verteidigen – nicht selten politische Schwerstarbeit. Ausgerechnet Kühnert, der stets auf Angriff gespielt hatte. 

Die Spitzen des Vorsitzenden

Auch im EU-Wahlkampf, Kühnerts erster bundesweiten Kampagne, wollte einiges nicht zusammenpassen, klafften Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinander. Beispiel: die Ukraine-Politik. „Frieden sichern“ plakatieren und den Einsatz westlicher Waffen gegen Russland erlauben? Schwierig. Die Entscheidung von Olaf Scholz hat den Friedenssound im Wahlkampfendspurt entschieden konterkariert. Doch verteidigen und erklären musste sie Kühnert, weil es der Kanzler nicht tat. 

Und sind nicht auch, oder gerade die SPD-Vorsitzenden für Profil und Ausrichtung der Partei verantwortlich? Die SPD-Spitze will sich nun dort kämpferischer zeigen, wo ihr Kernkompetenzen zugeschrieben werden oder wurden: Mieten, Rente, kurzum Gerechtigkeitsthemen. Es ist auch das Eingeständnis, hier ein Defizit zu haben.

Kühnert wollte „Hüter und Träger“ der SPD-Programmatik und „Kommunikator“ gegenüber der Öffentlichkeit sein, wie er nach seiner erstmaligen Wahl zum Generalsekretär sagte. Nun ist er auch zum Blitzableiter der Genossen geworden, die ihren Ärger auf ihn kanalisieren und die Gelegenheit nutzen, von ihrer eigenen Verantwortung abzulenken.

SPD Plan B 17.14

„Ich will Wahlen gewinnen“, sagte etwa Co-Parteichef Klingbeil mit Blick auf die erneute Kanzlerkandidatur von Scholz. Und konnte sich den Hinweis nicht verkneifen, dass er 2021 als Wahlkampfmanager ja bewiesen habe, dass die SPD bei Bundestagswahlen vorne liegen könne. Nach dem Motto: Ich hab’s hingekriegt.

Und Kühnert, sein Nachfolger als Generalsekretär?

Wird in den kommenden Wochen viel zu hüten, tragen, verteidigen und kommunizieren haben. Die Haushaltsverhandlungen gehen in die heiße Phase, SPD-Linke fordern schon ein Mitgliedervotum, um dem Kanzler rote Linien aufzuzeigen. Mit einem Sparhaushalt will man keinesfalls die nächste Superschlappe in diesem Superwahljahr riskieren.

Nur: Was, wenn’s doch so kommt? Und die Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst ebenfalls in die Binsen gehen? In Sachsen und Thüringen könnte die SPD sogar aus den Landtagen fliegen. Kühnert wird dann einer der ersten sein, der die Ereignisse deuten und erklären muss.