Selbstreflektion ist ein seltenes Gut. Selbstkritik ein noch selteneres. Umso mehr Aufmerksamkeit bekommt aktuell eine Werbekampagne der Stadt Reutlingen. Was sagen die Reutlinger dazu?

„Das REU in Reutlingen steht für bereuen.“ So prangt es riesengroß auf der Plakatwand vor dem Tübinger Tor. Der Aufbau drumherum erinnert eher an das Setting für eine Hochzeitsgesellschaft: Es gibt Häppchen, Limonade und reichlich Sekt – alles regional. Ein schwarzes Klappschild erklärt die Versammlung zur „geschlossenen Gesellschaft“. Reutlingen zeigt sich an diesem Montagmittag von der eleganten Seite. Schließlich möchte die Stadt erklären, wieso sie doch nicht so grässlich ist, wie es derzeit 150 großflächige Plakate in der Innenstadt behaupten.

Es gibt auch Reutlinger, die fanden, dass die Plakate auf den Müll gehören

Die Botschaft der Plakate: „Reutlingen kannst Du nicht mögen“

Seit dem 11. Juni hängen an 20 Standorten Plakate, die ihren Betrachterinnen und Betrachtern erklären, was an dem schwäbischen 118.000-Einwohner-Städtchen alles nicht stimmt. „Nichts ist so langweilig wie ein aufregender Tag in Reutlingen“, steht da zum Beispiel, oder, direkt am Bahnhof: „Leben, wo keiner Urlaub macht“. Das alles versehen mit dem Zusatz „Reutlingen kannst du nicht mögen“. In den sozialen Medien verbreitete sich die Plakataktion schnell. Sie wurde auf Tiktok und Instagram geteilt, später griffen Fernsehsender wie Sat.1 das Thema auf. Insgesamt verzeichnet die Aktion nach Angaben des Reutlinger Stadtmarketings online bislang 7,5 Millionen Aufrufe. Die Plakate, wurde am Montag aufgelöst, waren natürlich Marketing.

Die Botschaft hinter der Botschaft: Reutlingen muss man lieben

„Wir Reutlinger neigen manchmal so sehr zu Understatement, dass wir anfangen, die Vorurteile anderer über uns zu glauben“, sagt Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) beim Pressetermin am Tübinger Tor. Rund 40 Menschen haben sich versammelt, das sind viele für ein Pressestatement solch einer Stadt. „Das war die Basis unserer Kampagne, um uns Reutlinger wachzurütteln für ein Stadtgespräch und um das überraschend Liebenswerte an unserer Stadt wieder zu entdecken.“ 

Selten hat eine Stadt ihre Gäste ehrlicher begrüßt …

Reutlingen sei nun einmal oft „Liebe auf den zweiten Blick.“ Und deswegen versahen die Kampagnenverantwortlichen dann auch prompt eines der Plakate mit der Aufschrift „Reutlingen kannst du nicht mögen“ mit dem Zusatz: „Nur lieben.“ Auf einer Kampagnenseite können sich alle, die es interessiert, von nun an Testimonials von Bewohnerinnen und Bewohnern anschauen, die ihre Liebe zur Stadt bekunden. 

Aber wie kommt’s bei den Einwohnern an?

Am Bahnhof sitzen vor Beginn der Pressekonferenz zwei Reutlingerinnen auf dem Weg nach Tübingen. „In eine schöne Stadt, eine süße! Wir lieben Tübingen!“, sagen sie. Und was halten sie von den Plakaten?

Gabi Schneider, 70: „Wenn da jetzt Ströme an Menschen kommen, dann hat sich’s rentiert!“STERN PAID 25_24 Gianna Nannini 07.45

Ihre Begleitung, Karin Tietz, 69: „Ich find’s Oberscheiße. Und, also Gabi, wenn die das Parkhaus kostenlos machen würden, dann würden vielleicht Ströme kommen, aber so?“ Es entbrennt eine Diskussion in tiefstem Schwäbisch.

Jana Lukac, 21, steht am Bahnhof gleich gegenüber vom Plakat „Leben, wo keiner Urlaub macht“. Ihre Einschätzung? „Ja, schon, das kann ich bestätigen“, sagt sie. „Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der hier Urlaub macht.“ Anders als Tietz findet sie die Aktion aber gelungen. „Das spricht meine Generation an.“

Valentina Stampar, 54, sieht die Plakate jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit. Sie arbeitet bei der Deutschen Bahn. „Reutlingen ist ein wunderschönes Städtchen“, sagt sie. „Es ist schön, hier zu leben. Und jetzt macht sich ganz Deutschland darüber lustig.“ 

Yunus Özil, 16, ist das alles „relativ egal eigentlich.“

Entwarnung: Die Reutlinger Stadtverwaltung enttarnt die Schäh-Aktion – als Imagewerbung

Die Selbstbeschimpfung kostete 25.000 Euro

Liebe auf den zweiten Blick, das ist also die Idee hinter den Schmähplakaten. Aber was, wenn die zweite Kampagnenhälfte, die liebevolle Seite, nicht viral geht? Mark Pelzer von der Werbeagentur, die die Kampagne gestaltet hat, macht sich da keine Sorgen. Der zweite Teil der Kampagne, der mit der Liebe, werde die Leute auch emotional berühren, ist er sich sicher. Vor allem aber habe man mit der Kampagne gezeigt, dass man selbstironisch sein kann, so Pelzer. Gekostet hat sie 25.000 Euro – umgerechnet 20 Cent pro Einwohner. 

Angelika Sauer, 72, eine Dame mit Hut, radelt vorbei und bleibt spontan bei der Pressekonferenz stehen. Nur um zu kommentieren: „Was Dümmeres gibt es überhaupt nicht!“ Und dass man Reutlingen zwar nicht mögen, dafür aber jetzt lieben kann, was hält sie davon? „Jetzt ist es schon zu spät“, findet sie. 

STERN PAID 25_24 Mannheim 6.35Vor allem habe die Aktion eine Selbstreflexion der Reutlinger angestoßen, findet Hans Hamann. Eine interne Auseinandersetzung, die Reutlinger auch mal darauf hinweisen würde, dass sie auch ein bisschen stolz auf ihre Stadt sein können. „Wenn wir eine normale Werbekampagne gemacht hätten, hätte das keinen interessiert“, sagt er. Hamann ist Vorsitzender der Reutlinger Bürgerstiftung und Teil des Reutlinger Markenbildungsbeirats. Darüber war er in die Kampagne eingebunden. Er findet: ein voller Erfolg. 

Gemischte Gefühle also, aber das war ja auch die Idee. Oder, wie Thomas Keck, der Bürgermeister von Reutlingen, zusammenfasst: Eine Liebesbeziehung sei ja nie ganz einfach.