Unsere Autorin leidet an mangelnder Fußball-Empathie. In Zeiten großer Turniere wie der EM 2024 kann das sehr einsam machen. Doch es gibt ein paar Tricks dagegen.
Neulich gab es Fußball zum Nachtisch. Wir waren bei Freunden zum Essen eingeladen. Man könne ja nach dem Grillen dann Fußball gucken, sagte der Gastgeber.
Ich war überrascht. Fußball hatte bei unseren sonstigen Treffen nie eine Rolle gespielt. Der Freund wusste, dass weder mein Partner noch ich dazu eine besondere Affinität haben. Es musste sich also um ein besonderes Ereignis handeln, das an diesem Abend stattfand.
Ich googelte: Es war das Champions-League-Finale. Ich musste noch einmal googeln, welche Mannschaften dabei gegeneinander antraten. Damit ist alles über meine Beziehung zu dieser Sportart gesagt.
Ich habe das Prinzip Fußball nie verstanden. In meiner Familie spielte Sport im Allgemeinen keine große Rolle und dieser besondere schon gar keine. Er drängte sich trotzdem immer wieder in mein Leben. 1987 nahmen mich die Eltern einer Freundin einmal nach München mit und beschlossen aus einer Laune heraus, mit uns zu einem Spiel von Bayern München zu gehen. Es war das Abschiedsspiel von Dieter Hoeneß. Das Einzige, was ich dabei interessant fand, war die Erzählung, dass er einmal trotz klaffender Kopfwunde weitergespielt hatte.
Der Star mit der Vokuhila-Frisur
Als ich nach einem Umzug in eine andere Stadt auf ein neues Gymnasium kam, war dort in der Jahrgangsstufe über mir ein Junge mit Vokuhila-Frisur, den eine Aura von Wichtigkeit umgab. Er hieß Oliver Kahn. Ich erfuhr, dass er schon damals ein Star beim Karlsruher SC war. Ich habe nie ein Wort mit ihm gewechselt, merkte aber schon bald, dass man auch außerhalb der Schule bei Freunden und Bekannten Eindruck schinden konnte, wenn man nebenbei fallen ließ, dass man mit Oliver Kahn die Schule besuchte.
Zur Leidenschaft selbst fand ich trotzdem keinen Zugang. Im Gegenteil: Obwohl ich als Christin viel Verständnis für spirituelle Neigungen habe, konnte ich nie nachvollziehen, wie 22 Männer und ein Fußball so viele Menschen in quasi-religiöse Ekstase versetzen können. Schlimmer noch: Es lässt mich völlig kalt, ganz so, als ob hier die entsprechenden Synapsen-Verbindungen und das zuständige Gefühlszentrum niemals entwickelt wurden.
Mein größtes Problem allerdings: Die mangelnde Fußball-Empathie kann sehr einsam machen. Das gilt insbesondere für die Hochämter des Fußballs, Welt- und Europameisterschaften oder die Champions League. In diesen Zeiten werde ich zur Fremden im eigenen Land.
Eine ganze Nation verfällt dann in einen Rausch. Die Supermärkte überschwemmen ihre Regale mit Fußballsonderaktionen, kein Senf ohne EM-Logo. Im Kollegenkreis werden Tippspiele veranstaltet, der Ausgang des jeweils letzten Spiels analysiert. Im Bekanntenkreis kann man sich tagelang nur zum Public Viewing oder für private Grill-TV-Abende verabreden.
Natürlich könnte ich mich hinter dem Habitus der intellektuellen Distanz verschanzen und in diesen Tagen allein in Museen, ins Theater oder ins Kino gehen.
Aber ich fühle mich dabei wie ein Paria. Ich sehe die Nervosität, den Schmerz über Niederlagen, die Freude über Siege. Die vielen kleinen abergläubischen Rituale, mit denen die Freunde glauben, einen Spielverlauf beeinflussen zu können. Immer ein bestimmtes T-Shirt tragen! Nicht in die Nationalhymne reinsprechen! Niemals die Sitzordnung ändern! Immer dieselbe Bier- und Chips-Sorte konsumieren!
Und ich bin neidisch, dass ich nicht dasselbe, ja nicht einmal das Gleiche empfinde.
EM 2024: Die Angst des Verpassens
Und dann ist da noch ein Gefühl von FOMO. Das ist die „Fear of missing out“, die Angst, etwas zu verpassen, Fußball-Edition sozusagen. Sie ist nicht unberechtigt. Als Deutschland 2006 Gastgeber der Weltmeisterschaft war, geschah ein kleines Wunder. Plötzlich waren die Straßen und Autos mit Deutschlandflaggen übersät, Einheimische und Gäste feierten gemeinsam. „Sommermärchen“ wurde dieses Phänomen genannt, dass das Verhältnis der Deutschen zum Patriotismus fundamental veränderte. Was vorher oft nach nationalistischer Aggressivität klang, bekam unerwartet eine neue friedliche Leichtigkeit.
Wer das nicht erlebt hat, kann nicht mitreden. Vielleicht hat er nicht einmal Deutschland richtig verstanden.
Das möchte ich auf keinen Fall. Also greife ich zur Mimikry. Ich tue, als ob. Ich schmücke mein Auto mit Deutschlandflaggen, lasse mich zu Fußball-Grillabenden einladen und trage bei Public-Viewing-Events schwarz-rot-goldene Girlanden. Ich beteilige mich an Tippspielen (nicht ohne vorher heimlich den sportbegeisterten Freund um seine Expertise zu bitten) und bemühe mich, während der Spiele Kommentare aufzuschnappen („Fülle macht den Ball vorne besser fest als Havertz, der hätte früher kommen müssen“), die ich am nächsten Tag im Büro als eigene Einschätzung wiedergeben kann.
Und weil der gemeine Fußball-Fan sich auch gern an historische Momente erinnert, lese ich mich etwas ein. Damit ich nebenbei einfließen lassen kann, wie das damals mit Maradona und der Hand Gottes war oder wie sehr es mich beeindruckt hat, als 1997 der gerade eingewechselte Lars Ricken gleich bei seinem ersten Ballkontakt Borussia Dortmund im Champions-League-Finale zum Sieg lupfte.
Einsam am Grill
Natürlich durchschauen engere Freunde die Tarnung sofort. Doch das Gute ist: Echte Fans sind während der Fußball-Großereignisse emotional so aufgeraut, dass es sie nicht stört, getäuscht zu werden. Weil es für sie undenkbar ist, dass man ihre Gefühle nicht teilt, sind sie bereit, entsprechende Bekundungen ohne Hinterfragen zu akzeptieren.
Außerdem sind sie dankbar, wenn man sie am Grill vertritt, während sie gerade wichtige Szenen gucken müssen.
Sollten Sie während der EM also jemanden einsam am Grill stehen sehen, der oder die vom Wunder von Wembley schwärmt und Sie dann kurz bittet, doch nochmal zu erklären, warum es jetzt Nachspielzeiten von neun Minuten gibt, seien Sie nachsichtig. Es könnte sich um eine getarnte Fußball-Ignorantin wie mich handeln.