Sechs Millionen Hörer schalteten ein, wenn die Sendung „Hallo Ü-Wagen“ lief. 2010 wurde sie abgesetzt. Die frühere Moderatorin vermisst seitdem etwas im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Drei Stunden über Milben, Bleistifte oder Urin reden – das war es, was die Radiosendung „Hallo Ü-Wagen“ ausmachte. Die erste Ausgabe mit Moderatorin Carmen Thomas lief am Donnerstag (5. Dezember) vor 50 Jahren. Das Thema damals: „Nikolausfeiern im Kindergarten“. Klingt erstmal harmlos, hatte es aber schon in sich.

„Die Leitfrage war: Lohnt es sich, das Vertrauen von Kindern so früh zu verspielen?“, erzählt die heute 78 Jahre alte Carmen Thomas. „Schließlich wird denen ja vorgegaukelt, dass der Nikolaus echt ist. Und dazu kam damals ja auch noch, dass der gestrenge Mann Kinder vor Publikum bloßstellte, indem er öffentlich ihre Sünden verlas.“ Darüber ließ sich trefflich streiten – und damit war die Sendung schon auf Kurs.

Sechs Millionen Hörer pro Sendung

In den darauffolgenden Jahren wurde „Hallo Ü-Wagen“ immer populärer, zeitweise schalteten zur Sendezeit am Donnerstagvormittag sechs Millionen Hörerinnen und Hörer ein. Die Themen wurden vom Publikum vorgeschlagen, und für jede Ausgabe steuerten Thomas und ihr Team einen anderen Ort in Nordrhein-Westfalen an, der einen Bezug zum jeweiligen Thema hatte. Heute wäre das so nicht mehr denkbar, glaubt die in Köln lebende Journalistin und Autorin: „Die Leute würden heute nicht mehr drei Stunden im Schnee, in Regen oder Hitze stehen – ohne Sitze, ohne Kaffee.“

Bei manchen Sendungen ging es hoch her – schließlich war man in den wilden 70er Jahren unterwegs. Der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) zum Beispiel stand damals auf der Todesliste der Rote Armee Fraktion (RAF) – er kam dann dennoch ohne Bodyguards auf die Bühne.

1994 gab Thomas die Moderation nach fast 1000 Sendungen ab. „Es war gut, auf dem Höhepunkt aufzuhören“, sagt sie dazu. „Hallo Ü-Wagen“ lief dann noch 16 Jahre lang weiter, aber samstags und auf dem Informationskanal WDR5 statt im Massenprogramm WDR2. 2010 stellte der Sender das Format ein. Aufwand und Nutzen stünden nicht mehr im richtigen Verhältnis zueinander, begründete der größte ARD-Sender den Schritt. Außerdem gebe es mittlerweile in vielen Formaten Hörer-Beteiligung – und im Internet sei es sogar ständig möglich.

Ungefilterte Zuschauerbeteiligung war das wesentliche Kennzeichen

Thomas sieht das anders: Beteiligung ja, die gebe es sicher, allerdings nicht so ungefiltert wie bei „Hallo Ü-Wagen“. Dort hätten Interessierte einfach aus dem Publikum auf die Bühne kommen und mitdiskutieren können, ohne dass sie vorher von einem Redaktionsmitglied befragt und auf Herz und Nieren getestet worden seien.

Dass heute vielfach erst abgeklärt wird, was jemand „on air“ sagen will, hat auch damit zu tun, dass extremistische oder rassistische Aussagen vermieden werden sollen. Carmen Thomas hält dagegen: „Ich habe mal explizit jemanden eingeladen, der behauptete, dass die Fotos von Leichen in Auschwitz Fotomontagen vom CIA seien. Ich habe das zugelassen, und ich habe diesen Menschen auch nicht selbst abgekanzelt – das hätte nur dazu geführt, dass sich dann andere mit ihm solidarisiert hätten.“ Sie habe nicht die „Obermutter“ sein wollen, die die Menschen zurechtweise. „Aber es war eben der Vorsitzende der Häftlingsvereinigung Auschwitz da, und der hat dann etwas dazu gesagt – das war viel überzeugender.“

Solche offenen Auseinandersetzungen unter Einschluss aller, auch mit einem gewissen Maß an Unkalkulierbarkeit, vermisst sie heute. „Freiheit und Demokratie auf dem Sender zu erleben, halte ich nach wie vor für ein wichtiges Qualitätsmerkmal für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Und da kann „Hallo Ü-Wagen“ auch heute noch Vorbild sein.“