Das 1:1 im letzten EM-Gruppenspiel gegen die Schweiz war Fernsehfolter, meint unser Autor. Der hat zwar weder Ahnung von Fußball noch von der Nationalmannschaft, wusste aber schon nach einer halben Stunde, was dem deutschen Spiel fehlte: Mut zur (Zahn-)Lücke.

Ich nehme die Fußball-Europameisterschaft sehr ernst. In unserer Küche hängt ein Spielplan, auf dem alle Ergebnisse eingetragen werden. Ich halte an Spieltagen eine größere Menge Kartoffelchips und Erdnüsse bereit, um vor dem Fernseher stets fit und urteilsfähig zu bleiben. Ich weiß zudem, wann wir Weltmeister wurden. Kurz: Ich bin Experte.

Mein Sohn, 15 Jahre alt, offensives Mittelfeld beim SC Teutonia 05 Ottensen, sieht das anders. „Erstens spiele ich im defensiven Mittelfeld, zweitens beim FC Teutonia 05 Ottensen und drittens kannst du nicht mal einen falschen Neuner von Manuel Neuer unterscheiden.“ Kurz: Der Junge hat Recht.

Und dennoch sprach ich beim Spiel gegen die Schweiz nach etwa 30 Minuten zu meiner Frau: „So wird das nichts. Wo bleibt Füllkrug?“ Es stand 0:1, und ich schnippte mir mit grimmigem Blick Kartoffelchips-Reste vom Bauch. Und meine Frau – großer Füllkrug-Fan, allein schon wegen dieser offenbar irgendwie sexy wirkenden Zahnlücke – sagte: „Ich wusste gar nicht, dass du Füllkrug magst!“

EM 2024: Warum wechselt Nagelsmann nicht früher?

Fußball ist keine Frage von Mögen oder Nichtmögen. Fußball ist Kampf und Entschlossenheit. Ich fragte mich: Wann wird Nagelsmann entschlossen wechseln? Nagelsmann tat erstmal gar nichts. Und so ging es eben weiter: Zweite Halbzeit. Hinten? Konfusion. Das Mittelfeld?  Dicht. Und vorne? Enge, Enge, Enge. Gestocher von tausend Beinen auf zwei Quadratmetern. 

„Clever, diese Schweizer“, whatsappte mir mein Freund Bernd. Bernd kennt sich aus. 
Ich tippte, recht einsilbig: „Füllkrug!“
Darauf Bernd, mein Bruder im Geiste: „Wäre ne Maßnahme.“

Und Nagelsmann? Ignorierte uns komplett. Ich wurde immer ungehaltener und öffnete eine Dose Erdnüsse. Ich brauche immer viel Energie, wenn das Spiel so viel Kraft kostet. Bei jeder Ballberührung von Havertz schnauzte ich rum. „Nicht flach! Nicht durch die Mitte! Herrgottnochmal, hoch rein! Hoch! Nicht flach! Hooooch!“ 

„Wieso denn hoch“, fragte meine Frau, „wer soll denn da köpfen?“
„Füüüllkruuuuug!!!!“

Ich hatte sie angeschrien. Es war mir ein bisschen peinlich. Ich bin doch sonst nicht so. (Einwurf meines Sohnes: „Doch!“)
In der 61. Minute hatte Nagelsmann – endlich!!! – ein Einsehen. Er wechselte. Danke, Julian! (Wir duzen uns, wenn ich mit seinen Entscheidungen einverstanden bin.)
Und Julian brachte…Schlotterbeck. 
Und: Raum.
Ich begann, mit dem Oberkörper hin- und herzuwippen. 

FS Spielerfrauen Deutschland Schweiz 12.30

Und dann kommt… Beier!

„Alles in Ordnung?“, fragte meine Frau. „Das ist Folter“, flüsterte ich, langte mit der ganzen Hand in die Erdnüsse, schluckte praktisch ohne zu kauen und bekam einen Hustenanfall, sodass mein hervorgeröcheltes „Füllkrug“ praktisch nicht mehr zu verstehen war. In der 65. Minuten wechselte Nagelsmann erneut. Beier. Ich lachte hysterisch.

Frau: „Ruhig. Ganz ruhig.“
Ich: „Füll…grrrmmmpffff!!!“

Deutschland gurkte sich dem Ende entgegen. Ich spreche immer von „Deutschland“, wenn es nicht läuft. Wenn wir führen, sage ich „wir“. Ich hatte jedenfalls keine Lust mehr. Stand auf, ging in die Küche, räumte die Spülmaschine ein, griff zum Kugelschreiber und trug „0:1“ in den Spielplan ein. 
Eine letzte, bittere Whatsapp an Bernd: „Achtelfinale dann also gegen Italien. Schönen Dank auch, Nagelsmann!“
Gerade als ich beim Zähneputzen war, schrie meine Frau aus dem Wohnzimmer. Irgendwer hatte in der Nachspielzeit ein Tor geschossen. Für irgendwen. Der Name des Spielers? Habe ich vergessen.