Vor dem EM-Eröffnungsspiel fällt es nicht ganz leicht, die Zuversicht von Bundestrainer Julian Nagelsmann zu teilen. Dafür schleppt die deutsche Nationalmannschaft noch zu viele Probleme mit sich herum.
Die Planänderung hatte Julian Nagelsmann schon länger im Kopf. Aber der Bundestrainer hat natürlich gespürt, dass seine Nationalspieler mal abschalten müssen. Dass sie wenigstens zwei freie Tage am Wochenende runterkommen sollen, sich mit der Familie vergnügen, mit Freunden treffen oder einfach entspannen sollen. Ergo kommt der Kader statt am Sonntag erst am Montag wieder in Herzogenaurach zusammen, wo dann am Nachmittag das einzige öffentliche Training in der abgeschirmten Wohlfühloase des (Noch-)Ausrüsters Adidas abgehalten wird. Danach Schotten dicht. Und Fokus auf Schottland. Gegner im mit Hochspannung erwarteten EM-Eröffnungsspiel am 14. Juni in München.
Nach der allenfalls halbwegs geglückten Generalprobe gegen Griechenland (2:1) ist die deutsche Mannschaft im Grunde keinen Schritt weiter gekommen. Die März-Länderspiele gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1) haben eine Leistungsstärke vorgegaukelt, die dieses seit Jahren nicht mehr unter den Top-Ten-Nationen der Fifa-Weltrangliste geführte Team nicht besitzt. Insofern waren die EM-Tests gegen die Ukraine (0:0) und eben gegen Griechenland keine richtigen Stimmungsdämpfer, sondern realistische Beschreibungen dessen, was die DFB-Auswahl kann – und was sie nicht kann.
Die Fans waren da – trotz moderater Leistung der DFB-Elf
Die Begeisterung fürs Heimturnier ist dennoch bei vielen Menschen endlich, endlich zu spüren – auch in Mönchengladbach war das zu merken. Zwischenzeitlich wussten die 45.488 Zuschauer am Niederrhein nur nicht mehr, wie sie auf den trägen Vortrag ihrer Lieblinge in der ersten Halbzeit reagieren sollte. Die vereinzelten Pfiffe für das langsame Ballgeschiebe konterte ein Teil des Publikums mit trotzigen „Deutschland, Deutschland“-Rufen. Zweifel statt EM-Träume: Groß rettet Nationalteam 22.56
Toni Kroos befand, dass man „fehlerhaft“ und „unrund“ gespielt – sogar mit „einem Tick zu viel Ruhe“. Galt insbesondere auch für den Regisseur. Klar scheint, dass Kroos und Co. dringend einen Gang höher schalten müssen, damit es in der Vorrunde kein böses Erwachen gibt. Nagelsmann streute vorsorglich ein, er würde auch „dreimal ein 2:1 so unterschreiben“.
Torwart-Diskussion unvermeidbar
Die größten Zweifel schweben ausgerechnet über der Domäne der Deutschen: Manuel Neuer hat mit seinem Aussetzer vor dem 0:1 von Giorgos Masouras fast zwangsläufig eine Torwartdebatte entfacht. Es sind beim 38-Jährigen, der keine gute WM in Katar hingelegt und danach einen Beinbruch überstanden hat, in kurzer Folge zu viele Missgeschicke zusammengekommen, die zwangsläufig Zweifel nähren. Bei Real Madrid das Halbfinal-Aus in der Champions League verantwortet; im Bundesliga-Finale bei der TSG Hoffenheim Platz zwei noch verspielt; beim Comeback in der Nationalelf gegen die Ukraine einen Ball zum Gegner gechippt. Und nun ging sogar einfaches Handwerk bei einem harmlosen Schuss außerhalb der Strafraumgrenze schief.
Irritierend auch, wie wenig Selbstkritik der Schlussmann sich eingesteht. Und allemal auffällig, dass Bundestrainer Julian Nagelsmann offenkundige Fehler seiner Nummer eins „nicht bewerten, nicht analysieren, noch daran herumdoktern“ will. In seiner Nibelungentreue zu Neuer bringt sich Nagelsmann doch selbst in die Bredouille, wenn er so krude argumentiert wie Freitagnacht. Grundsätzlich sollte doch „jeder Deutsche ein Interesse daran haben, dass jeder Spieler gefestigt und stabil spielt.“ Eine eigentümliche Schlussfolgerung, um das Leistungsprinzip außer Kraft zu setzen.Stadien EM 17.20
Immerhin: Bei Neuers Vorderleuten hatte der Bundestrainer ja ein glückliches Händchen: Der 36-Jährige hatte Einwechselspieler Pascal Groß am Spielfeldrand geraten, genau auf solche zweite Bälle zu lauern wie vor der Direktabnahme zum 2:1 (89.). Richtig war auch, dass der Sieg der Gesamtstimmung gut getan hat. Ja, späte Tore sind ganz cool für die Psyche einer Mannschaft. Die Last-Minute-Spezialisten von Bayer Leverkusen lassen grüßen. Dennoch hinkt auch dieser Vergleich: Die Werkself eilte deshalb von Erfolg zu Erfolg, weil die Automatismen griffen; weil ein Trainer (Xabi Alonso) seine Handschrift in der Alltagsarbeit auf seine Truppe übertragen hatte.
Diese Zeit hatte Nagelsmann nicht – und er wird sie als Nationaltrainer auch nie bekommen. Es ist ein interessantes Experiment, das in den nächsten Wochen abläuft. Der intelligente, rhetorisch ungemein begabte Fußballlehrer hat deshalb einige sehr interessante Sätze in der Nacht zu Samstag gesagt. Ihn habe weh getan, wie die deutsche Nationalelf insbesondere bei der auf vielen anderen Ebenen auch missratenen WM 2022 in Katar ihre spielerische Überlegenheit nicht genutzt habe. Deswegen wolle er nicht, dass bei der EM 2024 in Deutschland irgendwas verschenkt werde. Alle müssen ans Limit. In jedem Spiel. Und wenn es dann doch nicht reicht, um Europas Fußball-Gipfel zu erklimmen, kann insbesondere der Bundestrainer damit gut leben. Die Fans vielleicht sogar auch.